Buchtipps

Alles Neuro oder was?

Die Hirnforschung kennt noch nicht alle Antworten

Es ist wie mit allen erstarkenden Wissenschaftszweigen: Die Hirnforschung zieht die Blicke auf sich, inzeniert sich als neue Leitwissenschaft, will alte Probleme endgültig lösen und prägt den Zeitgeist. Für den Mainzer Bewusstseinsforscher und Philosophen Thomas Metzinger ist das ein verlockendes Feld. Mit seinem Buch „Der Ego-Tunnel“, im November auch als Taschenbuch zu bekommen, spiegelt er die umtriebige, teils skurile und auch tiefschürfende Szene der Hirn- und Bewusstseinsforschung sehr gut wieder. „Ego-Tunnel“ nennt er den uns bewusst zugänglichen kleinen Wahrnehmungs- und Bewusstseinsstrom. Mit ihm graben wir uns gewissermaßen mit unserem Bewusstsein einen kleinen Tunnel „durch die Wirklichkeit“. Diese „subjektive Sicht auf die Welt“ erlaubt eine „stabile Erste-Person-Perspektive“, die uns vorgaukelt, wir hätten ein Selbst. Doch im Gegensatz dazu, „war oder hatte niemand je sein Selbst“. Metzinger verfügt über eigene „außerkörperliche Erfahrungen“, die er mit Berichten anderer und Forschungserkenntnissen verknüpft. Ihm wird klar, dass nicht der physische Körper, sondern das Handlungssubjekt der „Ort der Identität“ ist. Für ihn folgt daraus, dass der Ego-Tunnel ermöglicht, den eigenen Körper zu konstrollieren, um über diese Kontrolle das Bewusstsein davon zu entwickeln, jemand zu sein, wählen zu können und wirklich zu existieren. Der thematische Übergang zu „künstlichen Ego-Maschinen“ und zu „Bewusstseinstechnologien“ bis hin zu Fragen: „Welche Hirnzustände sollen legal sein?“ und „Was ist ein guter Bewusstseinszustand?“ markieren Metzingers Sicht von zentralen Themen der Neuroethik, mit der er das Buch beschließt. Da wäre ein Blick in das Buch des Philosophen Peter Janich angebracht, der einem solchen Feuerwerk der Hirn- und Bewussteinsspektulation ins Wort fällt und „zur Sprache der Hirnforschung“ etliche Mängel notiert. Vor allem resümiert er, die Hirnforschung sei bei der Auffassung vom Menschen als menschliche Maschine von 1748 stehen geblieben oder auf sie zurück gefallen. Und müsse erst einmal viele allein sprachliche und wissenschaftstheoretische Hausaufgaben erledigen anstatt mit dem Anspruch einer neuen Allerklärungtheorie aufzutreten. In die gleiche Kerbe schlägt Ralf Caspary, SWF-Wissenschaftsredakteur, mit seinem launigen Buch „Alles Neuro?“. Die bescheidenen, wenn auch durchaus interessanten und, wie man bei Metzinger sieht, stark inspirierenden Erkenntnisse der Hirnforschung werden kritisch von ihm auf das angemessene Maß zurecht gestutzt und zur populären Weiterverwendung aufbereitet. Den Stand der Dinge in der Hirnforschung liefert exzellent und gut verständlich der Frankfurter Hirnforscher Michael Madeja in „Das kleine Buch vom Gehirn“. Sehr empfehlenswert. Der Streit um das Ich findet seinen Niederschlag in dem Tagungsband „Das rästelhafte Ich“, der neben anderen den klugen Beitrag des Biologieprofessors Robert-Benjamin Illing enthält mit der Aussage: Bei der Erforschung des Gehirns ist es sehr unwahrscheinlich, zu widerspruchsfreien Erklärungssystemen zu gelangen. Gehirn und Geist lassen sich nicht in dasselbe Koordinatensystem zwängen. Und – so wäre zu ergänzen – in das gleiche wissenschaftliche Sprachspiel. Interdisziplinär auch die Dokumentation eines Symposiums „Hirnforschung und Menschenbild“ mit 26 sehr kontroversen Beiträgen, davon fünf fremdsprachlich. Dass die heutigen Erkenntnisse der Hirnforschung für den Menschen eine weitere Kränkungen bedeuten, wird weithin bestritten. Noch ist im Vergleich zu Sigmund Freuds Einlassung – und es sei hinzugefügt: im Vergleich zu Friedrich Nietzsches Einlassungen, dass der Mensch überwiegend unbewusst existiere und agiere und erst zum Ich reifen müsse, nichts Neues zuzugekommen. Der Streit um die Willensfreiheit, besonders stark durch Hirnforscher angefacht, die sie bestreiten, stellt der Kultur- und Moralwissenschaftler Jean-Pierre Wils lakonisch fest, der Freiheitsbegriff sie ebenso emphatisch wie der dunkel sei. Und weil die Hirnforscher daran nichts geändert haben, stellt der Philosoph Geert Keil fest: „Die Hirnforschung hat aus eigenen Mitteln nichts Relevantes zum philosophischen Freiheitsproblem beizutragen“ und bricht eine Lanze für den Menschen als bedingtes Freiheitswesen. Sehr fachlich, sehr lehrreich, sehr sympathisch.

Dr. Norbert Copray


Thomas Metzinger, Der Ego-Tunnel, Eine neue Philosophie des Selbst: Von der Hirnforschung zur Bewusstseinsethik. Berlin-Verlag. 378 Seiten. 26 €

Peter Janich, Kein neues Menschenbild, Zur Sprache der Hirnforschung. Edition Unseld. 192 Seiten. 10 €

Ralf Caspary, Alles Neuro? Was die Hirnforschung verspricht und nicht halten kann. Herder. 223 Seiten. 14,95 €

Michael Madeja, Das kleine Buch vom Gehirn, Reiseführer in ein unbekanntes Land. C.H. Beck. 223 Seiten. 17,95 €

Hermann Düringer u.a. (Hg.), Das rästelhafte ICH, Haag+Herchen. 169 Seiten. 26 €

Adrian Holderegger u.a., Hirnforschung und Menschenbild, Schwabe/Academic Press. 475 Seiten. 37 €

Gerd Keil, Willensfreiheit und Determinismus, Reclam 20329. 140 Seiten. 9,90 €