Buchtipps

Wenn Eigenarten zur Belastung werden

Stichwort
Persönlichkeitsstörungen


128 Persönlichkeitsstörungen hat der Psychologieprofessor Peter Fiedler in seinem gleichnamigen Buch beschrieben. Er hat die Idee und die Diagnose der Persönlichkeitsstörung in einen größeren tiefenpsychologischen und psychiatrischen Hintergrund eingebettet. Persönlichkeitsstörungen nennt er "Extremvarianten menschlicher Besonderheit und Vielfalt", was sehr gelungen verdeutlicht, wie solche Störungen zum Menschsein dazugehören und keineswegs die Abwertung rechtfertigen, mit die sie im Alltag oft bedacht werden. Einige Kinofilme wie "Rain Man" oder in "Einer flog übers Kuckucksnest" haben gezeigt, welches menschliches Potential und welche Könnerschaft auf anderen Bereichen mit solchen Störungen meist einhergeht. Das Fachbuch von Fiedler wird für den anders gelagerten Fall emotionaler Störungen durch das Buch "Depression und Manie" von Stavros Mentzos vertieft. Für Mentzos hat die Depression meist psychische und biochemische Ursachen, so daß eine integrative Behandlung angesagt ist. Vor allem gelte es, die Lage des jeweiligen Patienten zu erfassen und sehr konkrete Schritte zu gehen, die nicht dogmatisch vorgeschrieben werden.

Viele, auch Fachleute, neigen der Auffassung zu, schwer persönlichkeitsgestörte Menschen seien gar nicht zu beeinflussen. Fiedler tritt dem entgegen, weil dies meist eine sich selbst erfüllende Vorhersage sei. Er entlarvt Mythen der Therapeuten, die sie beispielsweise daran hindern, den Klienten in dessen Umfeld aufzusuchen. Auch sei es wichtig, nicht die Persönlichkeitsstörung, sondern ihre Beziehungen zum Behandlungsthema zu machen, es sei denn, die Person neige zu Gewalt gegen sich oder andere.
Den Störungen liegen in aller Regel Eigenarten zugrunde. Sie haben als Kompetenzen einer Person zu gelten, wenn sie nicht zu eigenem oder fremdem Leid führen. Als Therapieformen bevorzugt Fiedler die Psychoanalyse, die Interpersonelle Psychotherapie, die Verhaltenstherapie und die Kognitive Therapie. Für die Kognitive Therapie haben Heinz-Rolf und Inge Lückert eine verdienstvolle "Einführung in die Kognitive Verhaltenstherapie" vorgelegt, die sehr verständlich und genau die Ansätze dieser Therapieform vorstellt. Schlüssel dabei sind die Wahrnehmungs-, Aufmerksamkeits-, Überzeugungs- und Bewertungsprozesse, die das Verhalten einer Person steuern. Grundlegend für diese Therapieform ist der Band "Neurotische Stile" von David Sharipo geworden, weil hier der Schwerpunkt nicht auf Person oder Beziehung, sondern auf den Wahrnehmungs-, Bewertungs- und Handlungsstil gelegt wird. Treten Persönlichkeitsstörungen im Zusammenhang mit Lebenslaufkrisen auf, empfiehlt sich "Gruppenpsychotherapie", worüber Michael Angermaier ein sehr sachkundiges und umsichtiges Buch beisteuert. "Theorie und Methode der körperbezogenen Psychotherapie" stellen Fachleute um Rosemarie Schütz für den Klinikbereich vor. In einem Gesamtkonzept der Therapie von Persönlichkeitsstörungen kann es ohne körperbezogenen Therapieansatz heute gar nicht mehr gehen, will man nicht die Absichten auch der Psychoanalyse ins Gegenteil verkehren. Schwierigkeiten bei schweren Störungen dürften allerdings eine Reihe humanistischer Psychotherapien haben wie beispielsweise die "Gestalttherapie", über die von Serge und Anne Ginger ein so betiteltes Handbuch vorliegt. Ihnen fehlt oft ein ausgearbeiteter Diagnose- und Behandlungsansatz dafür, weswegen sie meistens bei schwächeren Störungen genutzt werden. Was heißt 'schwächere Störung'? Persönliche Eigenart, einen Charakter hat jeder von uns. Schon früh hat es in der Psychoanalyse und in der klinischen Psychologie dazu eine Typenlehre gegeben,die den seelischen Störungen, Neurosen, nachgegangen ist. Karl König hat dies auf orginelle Weise in "Kleine psychoanalytische Charakterkunde" aufgegriffen. Jetzt bestimmt er in "Charakter und Verhalten im Alltag" genauer, worin Charaktere ihre Chancen, aber auch ihre Grenzen und somit ihre Störanfälligkeit haben. Allerdings sind solche Beschreibungen nicht unproblematisch und sollten auch seiner Ansicht nach nur zum Selbstverständnis genutzt werden. Sie verbleiben zwangsläufig in einer mittleren Abstraktion. Eine Übersetzungshilfe, deren Grenzen von vielen nicht klar genug eingeschätzt werden können. Die Eigenarten eines Menschen, sein Charakter kann bei unbewältigten, unbewußten seelischen Konflikten stören und auch ihn selbst so stören, daß er für andere und sich beispielsweise in der Zusammenarbeit zu einer Belastung wird. Das rechtfertigt aber nicht Jürgen Hesse und Hans Christian Schraders Versuch, daraus verkaufsträchtig "Die Neurosen des Chefs" zu machen. Hier werden in der klinischen Psychologie vorliegende Störungstypen teils vereinfachend angewendet, ohne sich die Mühe zu machen, Untersuchungsmaterial zur Situation von Chefs zu beschaffen. Ohne genaue Falluntersuchung, ohne Studien an der konkreten Situation von Chefs bekommen die Leser nur überwiegend einen Abklatsch des in den USA zu Diagnose- und Verständigungszecken erstellen "Manuals psychischer Störungen". Die Aspekte werden nicht problematisiert. Über die spezifischen Auswirkungen einer Chefsituation auf den Charakter erfahren die Leser so gut wie nichts. Damit bleiben auch die "seelischen Kosten der Karriere" im sozialwissenschaftlichen Dunkel. Nicht nur vom Einzelnen gehen Störungen aus, sondern auch die gesellschaftlichen Verhältnisse führen zu Störungen von Menschen, bisweilen sogar zu deren Zerstörung. Die "Individualisierung" der Störung ist die Gefahr der Psychologie.

Dr. Norbert Copray


Rezensierte Bücher:

Michael Angermaier: Gruppenpsychotherapie. Beltz/PVU. 203 Seiten.

Peter Fiedler: Persönlichkeitsstörungen. Beltz/PVU. 534 Seiten.

Serge und Anne Ginger: Gestalttherapie. Beltz/PVU. 284 Seiten.

Jürgen Hesse/Hans Christian Schrader: Die Neurosen des Chefs. Die seelischen Kosten der Karriere. Eichborn. 238 Seiten.

Heinz-Rolf und Inge Lückert: Einführung in die Kognitive Verhaltenstherapie. UTB/Reinhardt. 330 Seiten.

Karl König: Kleine psychoanalytische Charakterkunde. Vandenhoeck und Ruprecht. 144 Seiten.

Karl König: Charakter und Verhalten im Alltag. Vandenhoeck und Ruprecht. 109 Seiten.

Stavros Mentzos: Depression und Manie. Vandenhoeck und Ruprecht. 206 Seiten.

Rosemarie Schütz u.a.: Theorie und Methode der körperbezoegenen Psychotherapie. Kohlhammer. 126 Seiten.

David Shapiro: Neurotische Stile. Vandenhoeck und Ruprecht. 204 Seiten.