Buchtipps

Den seelischen Müllsack heilsam öffnen

Jean Monbourquette
Umarme deinen Schatten
Negative Energien in positive umwandeln. Herder-Spektrum 5094. 159 Seiten.

Unweigerlich bringt unsere soziale Existenz einen persönlichen Schatten mit sich. Denn um sozial überleben zu können, müssen wir von früher Kindheit an ein sozial passendes Ich ausbilden. Dieses ideale Ich, das je nach den Regeln des sozialen und kulturellen Umfeldes von Person zu Person sehr unterschiedlich ausfallen kann, hat der Tiefenpsychologe und Arzt Carl Gustav Jung ‚persona' genannt. Es ist das von uns nach außen gezeigte Gesicht unserer Person. Nimmt die Gesichtsanpassung unseres Ichs übersteigerte Züge an, sprechen Psychotherapeuten auch vom falschen Ich. Es entsteht meist, wenn das soziale Überleben nur durch defensive Anpassung möglich ist. Dabei werden die echten Gefühle gegen sogenannte Ersatzgefühle ausgetauscht: statt zu weinen wird jemand zusammengebrüllt, statt Angst zu empfinden wird Hass gefühlt. Ob nun unser soziales Ich weniger oder mehr übersteigerte Aspekte aufweist, in jedem Fall zahlen wir mit unserer Persönlichkeit einen Preis für die unumgängliche Anpassung. Dieser Preis ist unser Schatten. Er "ist all das, was wir in unser Unbewusstes abgeschoben haben, und zwar aus Angst, von den Menschen, die bei unserer Erziehung eine entscheidende Rolle gespielt haben, abgelehnt zu werden. Um ihnen zu gefallen, beeilten wir uns, einen guten Teil unserer persönlichen Eigenart ins Vergessen des Unbewussten abzuschieben". So umschreibt der klinische Psychologe, Tiefenpsychologe und Pfarrer Jean Monbourquette in seinem Buch "Umarme deinen Schatten" den von Carl Gustav Jung entdeckten Sachverhalt. Der Schatten kann verschiedene Formen und Ausprägungsgrade haben. In Bezug auf besonders eigenmächtig abgespaltenen Schatten, zu dem die betreffende Person keinen Zugang mehr hat und den sie unbemerkt auf andere projiziert, spricht Robert Bly ("Eisenhans") von einem psychischen "Müllsack". Das bedeutet, "dass es jedes Mal, wenn man ein Gefühl, eine Eigenschaft, einen Charakterzug oder ein Talent verdrängt, so ist, als werfe man bestimmte Teile seiner selbst in den Müllsack". So füllt man in seinen ersten drei Lebensjahrzehnten diesen Müllsack mit wertvollen Anteilen seiner Persönlichkeit, von denen man aber erfahren hat oder vermutet, dafür keine Akzeptanz zu finden. Im besten Fall wühlen wir während unseres weiteren Lebens darin und fördern nach einander wieder zu Tage, was sich darin befindet. Dadurch wird dessen Akzeptanz durch uns selbst, deren Integration und das unser Eintreten dafür gegenüber anderen notwendig. Ist die Wiederentdeckung des Müllsackinhalts verstellt, kann er so schwer werden, dass ein Mensch darunter zerbricht, sei es, dass er auf der Stille tritt und sein persönliches Wachstum verpasst, sei es, dass er innere Leere empfindet und depressiv wird oder sich von Zwangsvorstellungen und Belastungen unerklärlich stark bedrängt fühlt. Daher ist es entscheidend wichtig, seinem Schatten bewusst zu begegnen und dies nicht einfach dem Zufall zu überlassen. "Umarme deinen Schatten" ist eine vorzügliche Einführung und Anleitung zu einer heilsamen Integration des eigenen Schattens, die sich niemand entgehen lassen sollte. Weder psychisches noch soziales noch spirituelles Wachsen ist möglich, ohne eine solche Integration des eigenen Schattens, die auch nicht überhastet, sondern im wahrsten Sinn des Wortes seelsorglich klug vorgenommen wird. Monbourquette bietet dazu alle notwendigen Information an, vor allem aber Perspektiven, Strategien und praktische Anleitungen. Das verständnisvolle und verständliche Buch hilft, statt an anderen zwecks besserer Beziehungen herum zu erziehen, bei sich zu beginnen und auf seiner Seite für eine Neupositionierung der eigenen Persönlichkeit und ihres Ausdrucks gegenüber anderen zu sorgen. Nicht zuletzt ist die Rücknahme und die Abwehr von Projektionen ein Beziehungen reinigender Prozess, der auch für spirituelle Schritte frei macht. Die psychospirituelle Grundhaltung des Buches macht Mut, mit dem Recycling des persönlichen Müllsacks nicht wieder aufzuhören.

Dr. Norbert Copray