Buchtipps

Die abgewandte Seite des Menschen

Verena Kast
Der Schatten in uns
Die subversive Lebenskraft. Walter. 182 Seiten.

Mit der Rede vom Schatten hatte der Begründer der Analytischen Psychologie, Carl Gustav Jung, eine Metapher gefunden, die wirkungsvoll in die Umgangssprache Eingang gefunden hat. Damit werden die Persönlichkeitsanteile bezeichnet, die einem Menschen meist unbewusst sind. Natürlich fällt es uns leichter, den Schatten bei anderen als den eigenen wahrzunehmen. Insofern ist es ein Verdienst des neuen Buches der Tiefenpsychologin und Psychotherapeutin Verena Kast, dass sie unsere Blickrichtung auf den >Schatten in uns< lenkt. Zugleich liefert sie mit ihrem Buch, dass eine kluge Auseinandersetzung mit dem eigenen Schatten nahe legt, eine Entwicklung und dabei gelegentliche Korrektur der Jungschen Schatten-Metapher. Daraus folgt ein vertieftes Verständnis des tiefenpsychologischen Schattenbegriffs.

Schon bei Jung finden sich Bestimmungen des Schattenbegriffs, die über die bloße Bezeichnung der unbewussten Persönlichkeitsanteile hinausgehen. 1945 nennt er den Schatten das, was ein Mensch "nicht sein möchte". Das kann auch als Anspielung auf seine Sympathie für nationalsozialistische Mythologie, Symbolik, Großmannssucht und antisemitische Tendenzen gelesen und als Eingeständnis eigenen Schattens verstanden werden. Kast räumt diese Schattenseite Jungs durchaus ein und schätzt daran, dass eine Idealisierung Jungs auf diese Weise verstellt ist. Zugleich kritisiert sie aber, mit der Blindheit Jungs gegenüber dem Nazißmus werde leichtfertig begründet, sich für die Pionierleistungen Jungs auf dem Gebiet der Tiefenpsychologie blind zu machen und nun seinerseits die bereichernde Selbstaufklärung, die dieser tiefenpsychologische Ansatz bietet, abzuwehren.

Alles, was ist, wirft bei Licht besehen Schatten. Da wir unseren Mitmenschen die nach unserem Selbstverständnis helle Seite von uns zeigen, die wir bestätigt bekommen wollen und von der wir annehmen, dass sie Bestätigung findet und finden sollte, bleibt die von den Mitmenschen und meist von unserem Bewusstsein abgewendete Seite im Schatten. Wie die von der Sonne abgewandte Seite des Mondes im Dunklen liegt, so auch die von Bewusstsein und Beziehungen abgewandte Seite des Menschen. Sie enthält auch all das, was wir uns angesichts der Vorstellungen, was und wie ‚man' leben sollte, angesichts der verinnerlichten elterlichen und moralischen Gebote nicht zu leben trauen. Dieser ‚Man-Schatten', wie ihn Kast in Anlehnung an Martin Heideggers Analyse des ‚man' nennt, hat einerseits eine Verwandtschaft zum kollektiven Schatten und andererseits zum "Schatten als das Fremde" in uns, was wir gern auf andere projizieren. Vordringlich wichtig ist, dass wir unseren eigenen Schatten akzeptieren lernen, um seine Projektion auf andere und die Verschreibung anderer mit Schatten zurück nehmen zu können. Was uns an uns und in uns fremd ist, gilt es zu akzeptieren und anzunehmen, so dass wir nicht andere Fremde mit unserer Fremdheit beladen und dann dadurch unheimlich und bedrohlich empfinden müssen. Niemand ist vor eine Überraschung sicher, die aus ihm selbst kommt. Der Schatten kann sich als subversive Lebenskraft erweisen. Die Wahrnehmung und Akzeptanz des eigenen Schattens hält nicht nur Bedrohliches, Abgespaltenes, Unverständliches bereit, sondern auch neue kreative Chancen der Persönlichkeit. Kast ist hinsichtlich der Integration des Schatten vorsichtig, wie sie durch die Jungsche Psychologie propagiert wurde. Hier haben sich Theorie und Therapie der Tiefenpsychologie angesichts der Grenzen des Menschen übernommen, zumal der Schatten laut Jung ins Archaische, Instinktive und Wilde reicht. In Auseinandersetzung mit dem kollektiven Schatten und der Symbolisierung des Bösen durch den Schatten fragt Kast mit Erich Neumann und Jung nach einer neuen Ethik. Entscheidend bleibt schließlich, sich von Autoritätskomplexen zu befreien, seiner inneren Stimme Gehör zu verschaffen und für das, was im Schatten ist, Verantwortung zu übernehmen, indem es erkannt und möglichst unschädlich ins Leben einbezogen wird.

Dr. Norbert Copray