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Dr. med. Mark Schmid-Neuhaus

Internationales Management und innere Grenzen

Prolog
"Es gibt eine kreisförmige Wechselbeziehung zwischen Machen und Erkennen. Wenn man nicht macht, was man als notwendig, wenn auch mit persönlichen Unannehmlichkeiten behaftet, erkannt hat, dann kann man irgendwann auch nicht mehr erkennen, was zu machen ist. Wer Anpassungszwängen taktisch nachgibt, wohl wissend, dass er ihnen auch mit vertretbarem Risiko widerstehen könnte und auch sollte, wird nach und nach die Unzumutbarkeit von Anpassungsforderungen gar nicht mehr wahrnehmen, das heißt die eigene Gefügigkeit auch nicht mehr als Fluchtreaktion durchschauen. Alles erscheint normal: die Verhältnisse, denen er sich ergibt, und der Verzicht auf Gegenwehr, den er eben gar nicht mehr als Verzicht erlebt."

 

(Quelle: H.E. Richter - Bedenken gegen Anpassung, 1995)

1. Internationales Management

1.1 Einleitung & Einführung mit "I love Lucy"

Wenige Tage vor den Ereignissen des 11.9.2001 hatte sich eine ca. 35 Köpfe zählende Gruppe in Harvard getroffen, um über Organisationsprobleme im Gesundheitswesen zu sprechen. Prof. Steven Spear stellte dabei eine in Vorbereitung befindliche Case Study über Toyota vor, die er mit einem kurzen Video einleitete. Er war so nett, mir dieses Video (2 Minuten) zur Verfügung zu stellen, und ich möchte es Ihnen zeigen, weil es im Bild noch einmal zusammenfasst, worüber sowohl Prof. Lay als auch Dr. Kallinke gesprochen haben. Wir fanden in unserer Harvard-Runde, dass das Video aus einer sehr populären Serie "I Love Lucy" aus den 60er Jahren, also einer Zeit, in der die neue Industriegesellschaft einen weltweit beeindruckenden Spurt hinlegte, auch heute noch aktuell ist. Allerdings würde es heute in einer etwas anderen Szenerie spielen. Die Darsteller hätten alle PCs und Handys und würden sicher nicht an einem Fließband wie Lucy sitzen. Aber die Grundaussage und vor allem die Problematik, die Sie thematisiert sehen, haben kaum gewechselt. Dass wir uns in einer internationalen Welt bewegen, würde vielleicht in der Geschwindigkeit der Schnitte und der schnell wechselnden Plätze (New York - London - Paris - Frankfurt - Tokyo) deutlich, an denen das "heutige" Video spielen würde. Das macht die Globalisierung bzw. Internationalisierung des Managements deutlich. Erstaunlich, dass die Akteure einer anderen sozialen Klasse ( Manager) angehören, die in der Entstehungszeit dieses Videos sich wohl kaum mit Lucy vergleichbar gesehen hätten.

1.2 Was ist internationales Management?
Peter Drucker: "Postcapitalistic Society" (1993)

Peter Drucker hat in einem 1993 in den USA erschienen Buch, das in Europa bisher wenig wahrgenommen wurde, den Prototyp einer neuen wissensbasierten, globalisierten postindustriellen Kultur beschrieben, die aus der konsequenten Anwendung von Wissen zuerst die Industrielle Revolution ( ca. 1700 - 1880, dann die Produktivitätsrevolution (1881 - Ende II. Weltkrieg) und schließlich die Management Revolution (II. Weltkrieg - 2020) geschaffen hat.

Als Merkmale einer wissensbasierten Gesellschaft nennt Drucker folgende Punkte:

  • Der Zweck von Organisationen in einer Wissensgesellschaft ist " Wissen produktiver zu machen"
  • In einer Gesellschaft, die auf spezialisierten Wissensarbeitern beruht, sind die Organisationen darauf fokussiert, dass ihre Experten so produktiv wie möglich arbeiten können
  • Es entwickelt sich zunehmend eine Gesellschaft von Gleichen ( flache Hierarchien), die dezentralisiert funktionieren und absolut mobil sein müssen
  • Das Ziel dieser postkapitalistischen Organisationen ist Innovation bei ihren Werkzeugen, Geschäftsprozessen, Produkten, Tätigkeiten und dem Wissen selbst; insofern sind sie auf permanenten Wandel programmiert.
  • Eine Wissensgesellschaft ist eine sehr wettbewerbsintensive Gesellschaft: "Wissen ist allen zugänglich; von jedem wird erwartet, dass er sich entsprechend plaziert, ständig verbessert und entsprechende Ambitionen hat. So können mehr Menschen als je zuvor erfolgreich sein. Allerdings gilt auch die Umkehrung: mehr Menschen als je zuvor können scheitern oder erst an zweiter Stelle kommen" ( Quelle: Drucker, Managing in a Time of Great Change, 1995)

1.3 Möglichkeiten vs. Probleme
In einem anderen Zeitrahmen hätte ich gerne kurz die Möglichkeiten der eben geschilderten Entwicklung verbunden mit denen ihnen zuzuordnenden Problemen angesprochen. So erwähne ich lediglich stichwortartig den Weg, den ich hierbei genommen hätte.

1.3.1 Der Fortschritt wartet nicht - Das Phänomen der Beschleunigung
1.3.2 Worin besteht der Fortschritt?
1.3.3 Wie sinnvoll ist der Fortschritt?

Exkurs zur Risikogesellschaft im Sinne von Ulrich Beck
1.3.4 Wie schnell können wir lernen? Wie groß ist unsere Flexibilität?
1.3.5 Konsequenzen: Das neue Divide

Hiermit ist gemeint:

  • gut ausgebildet vs. schlecht oder gar nicht ausgebildet
  • Nord vs. Süd / Entwickelte Länder vs. Schwellenländer/ unterentwickelte Länder

2. Innere Grenzen

2.1 Richard Sennet: "Der flexible Mensch"

In dem 1998 erschienenen Buch "Der flexible Mensch" beschreibt Richard Sennet (1998 auch in USA publiziert) an Hand von mehreren Fallstudien die gesellschaftlichen Folgen von Flexibilität, die die Voraussetzung für das Realisieren des möglichen Innovationspotentials samt der damit verbundenen Beschleunigung der wissensbasierten Gesellschaften sind:

  • das Ende der klassischen Berufslaufbahnen
  • die Zerstörung von freundschaftlichen und familiären Bindungen
  • die Entwertung des Ortes, an dem man arbeitet, der Stadt.

Flexibilität ist das Zauberwort eines globalen Kapitalismus mit seiner besonderen Form von Kurzfristigkeit und hoher Elastizität, die nur möglich ist mit flexiblen Menschen, die sich ständig neuen Aufgaben stellen können und immer bereit sind, Arbeitsstelle, Arbeitsformen und Wohnort zu wechseln.

Der deutsche Verleger ist offensichtlich diesem Zauberwort ( aus welchen Gründen auch immer) gefolgt und hat sich entschieden, den Originaltitel "Die Korrosion des Charakters" nicht einmal mehr als Untertitel beizubehalten. Stattdessen erscheint dort "Die Kultur des neuen Kapitalismus". Ich habe mich gefragt, ob nicht auch dies ein Beispiel für die kreisförmige Wechselbeziehung zwischen Machen und Erkennen darstellt, die ich in meinem Eingangsprolog mit dem Richter-Zitat angesprochen habe.
Sennet schreibt in seinem Einleitungskapitel: " Vielleicht der verwirrendste Aspekt der Flexibilität ist ihre Auswirkung auf den persönlichen Charakter. In der Geistesgeschichte bis zurück in die Antike gibt es kaum einen Zweifel an der Bedeutung des Wortes Charakter: es ist der ethische Wert, den wir unseren eigenen Entscheidungen und unseren Beziehungen zu anderen zumessen. Horaz hat geschrieben, dass der Charakter eines Menschen von seinen Verbindungen zur Welt abhängt. In diesem Sinne ist Charakter ein umfassender Begriff als sein moderner Nachkomme, die Persönlichkeit, bei der es auch um Sehnsüchte und Gefühle im Inneren geht, die niemand anderes erkennt.
Der Charakter konzentriert sich insbesondere auf den langfristigen Aspekt unserer emotionalen Erfahrung. Charakter drückt sich durch treue und gegenseitige Verpflichtung aus oder durch die Verfolgung langfristiger Ziele und den Aufschub von Befriedigung um zukünftiger Zwecke willen. Aus der wirren Vielfalt von Empfindungen, mit der wir alle uns jederzeit herumzuschlagen haben, wählen wir einige aus und versuchen sie aufrechtzuerhalten. Diese nachhaltigen Züge werden zum Charakter, es sind die Merkmale, die wir selbst an uns schätzen und für die wir den Beifall und die Zuwendung der anderen suchen.
Wie aber können langfristige Ziele verfolgt werden, wenn man im Rahmen einer ganz auf das Kurzfristige ausgerichteten Ökonomie lebt? Wie können Loyalitäten und Verpflichtungen in Institutionen aufrechterhalten werden, die ständig zerbrechen oder immer wieder umstrukturiert werden? Wie bestimmen wir, was in uns von bleibendem Wert ist, wenn wir in einer ungeduldigen Gesellschaft leben, die sich nur auf den unmittelbaren Moment konzentriert? Dies sind die Fragen zum menschlichen Charakter, die der neue flexible Kapitalismus stellt."

2.2 Wie flexibel ist der Mensch oder wie viel Bindung braucht er?
Im Gesundheitswesen sind wir sowohl medizinisch wie ökonomisch damit beschäftigt, Antworten auf diese Fragen zu suchen und zu erproben, weil unsere wesentlichsten Erkrankungen besonders deutlich die Grenzen von Belastbarkeit und Leistungsfähigkeit spiegeln. Ich muss mich aus Zeitgründen wieder auf ein kurzes Beispiel beschränken, das aber doch deutlich macht, welchen Preis wir als Einzelne wie als Gesellschaft für bestimmte Leistungsfähigkeiten bezahlen.

Die führende Killerkrankheit in den westlichen Zivilisationen ist nach wie vor der Herzinfarkt oder genauer die koronare Herzkrankheit. An der Institution, als deren leitender Arzt ich seit 1978 arbeite, betreuen wir ca. ein Drittel der ambulanten kardiologischen Rehabilitationsherzgruppen in München. Wenn ich meine Erfahrungen aus dieser Arbeit auf den Punkt bringe, dann ist der wesentlichste Risikofaktor fast all dieser kardiologischen Patienten eine frühe Bindungsstörung mit der Konsequenz, "unsicher gebunden - vermeidende" Bindungsmuster als Grundzug der Persönlichkeit zu haben. Mit diesem Muster, das einem oft sogar als hohe Autonomie imponiert, ist man hervorragend auf die Anforderungen einer nur auf äußere Leistung zentrierten Umwelt eingestellt, allerdings um den Preis eines entsprechend höheren Krankheitsrisikos. Was wir in diesen Gruppen als Heilfaktoren vor allem zu mobilisieren versuchen, ist "eine Öffnung der Herzens" sowohl in Richtung auf sich selbst als auch auf die Beziehung zu anderen.

3. Plädoyer für eine faire Gesellschaft
Ich möchte deshalb schließen mit einem pragmatischen Plädoyer für eine faire Gesellschaft: Drei Fragen müssen wir zum zentralen Thema machen und beantworten:

Welche Werte sind wichtig und lebbar?

Welche Ziele sind erreichbar?

Welche Wünsche sind erfüllbar?

Im Moment irritiert, dass diese Fragen nicht oder erstaunlich wenig unsere jeweilige Agenda bestimmen, obwohl sie nicht neu sind, sondern im Zentrum jeder Art von Spiritualität, Religion und Philosophie sind. Lebenskunst und damit eine faire Gesellschaft ergibt sich als realisierbare Perspektive für jeden und jede Gesellschaft, die sich mit Ernsthaftigkeit diesen Fragen stellt. Allerdings: wie die Ausführungen von Dieter Kallinke gerade deutlich gemacht haben, wir müssen früh genug, d.h. bereits in der ganz frühen Sozialisation in der Kindheit damit anfangen - hier sind wir also auch als Eltern gemeint - und darauf achten, das ein Leben lang durchzuhalten. Ich will Ihnen hier eine Reihe von Büchern nennen, die Horst E. Richters Arbeit für eine breite Öffentlichkeit skizzieren und seinen Weg spiegeln von dem frühen Buch "Eltern Kind, Neurose" über "Lernziel Solidarität", "Flüchten oder Standhalten", den "Gotteskomplex" bis hinzu seinen "Bedenken gegen Anpassung" -. Ich freue mich, dass wir mit unserem ersten Fairness-Preisträger H.E. Richter auf eine Person aufmerksam machen können, die zeigt, wie man einen Weg zu einer fairen Gesellschaft gehen kann.

Punkte für die Diskussion:

  • Abschließend noch mal auf Lucy Bezug nehmen
  • Nefiodow's Perspektive des sechsten Kondratieffs und die "entropischen Felder" (siehe extra Chart)