Dankesrede
von Prof. Dr. Dr. Horst-Eberhard Richter

DANKESWORTE

zur Verleihung des Fairness-Preises 1.12.01

Verehrte Mitglieder des Kuratoriums der Fairness-Stiftung, verehrte liebe Dorothee Sölle, liebe Kolleginnen und Freunde aus der Zusammenarbeit in 4 Jahrzehnten in der Psychoanalyse, in der Sozialtherapie und in der Friedensbewegung, meine Damen und Herren,

eigentlich ist es unfair von mir, diesen Preis überhaupt anzunehmen, denn laut Duden-Wörterbuch meint Fairness ja nichts anderes als anständiges Verhalten, von dessen landesweiter Verbreitung das Funktionieren einer liberalen Demokratie abhängt. Vielleicht aber wollte das Kuratorium mir etwas Gutes dafür antun, dass ich das Phänomen des Missbrauchs von Macht für mich tatsächlich zu einem besonderen Forschungsthema gemacht habe, zu dem ich durch mich selbst als Negativ-Beispiel geführt worden bin. Denn mein erstes Buch, das ich diesem Thema widmete, es heißt "Flüchten oder Standhalten" schrieb ich, als meine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in der Giessener Universitätsklinik mich immerhin in fairer Weise belehrt hatten, dass ich auf dem besten Wege sei, ein schwer erträglicher drängelnder Chef zu werden. Ich musste darüber nachdenken, und so entstand das Kapitel: "Die Karriere vollendet oft die psychische Selbstaufgabe in Raten". Was bewegt einen Chef dazu, genauso zu werden, wie er nach schmerzlicher Erfahrung von Vorgesetzten-Willkür nie hatte später werden wollen? Wenn nun andere von meinen aus dem Selbsthilfe-Projekt hervorgegangenen Gedanken profitiert haben, so freut es mich natürlich ebenso wie die heutige Anerkennung die mir nun die Gelegenheit gibt, die Arbeit der Fairness-Stiftung mit dieser kleinen Dankesrede ein wenig zu unterstützen.

Der Zeitpunkt ist günstig. Das entnehme ich aus den empirischen repräsentativen Studien, mit denen Kollege Elmar Brähler und ich seit Jahrzehnten die Selbsteinschätzung der westdeutschen Menschen verfolgen. Nach etwa 20 Jahren einer Art von Ego-Kult beobachten wir nun in jüngster Zeit wieder einen bemerkenswerten Anstieg von sozialer Sensibilität. Aus der Beantwortung der Fragen des seit 1968 periodisch angewandten Tests geht klar hervor, dass den Menschen soziale Werte wieder mehr bedeuten. Sich um andere Menschen Sorgen zu machen, sich selbst als verlässlich und verträglich zu beweisen, wird wieder wichtig genommen. Das Interesse an langfristigen Bindungen steigt an. Gefühle werden weniger unterdrückt. Die berühmte Angst vor Nähe ist fast geschwunden. Und Nähe so sagt der Soziologe Zygmont Bauman, ist Verantwortung. Und Verantwortung ist Nähe. Gemeint ist: Im persönlichen Gegenüber wächst die Bereitschaft zu Gerechtigkeit und Fairness. Auge in Auge merke ich, was ich dem anderen schuldig bin, was ich ihm zumute. Gerechtigkeit als Fairness, lautet die berühmte Gerechtigkeitslehre von John Rawls. Aber welches sind die psychologischen Grundlagen von Fairness? Adam Smith, vor zweieinhalb Jahrhunderten Erfinder der liberalen Marktwirtschaft, sah die Selbstsüchtigkeit der konkurrierenden Interessen dadurch gebremst, dass die Menschen von Natur aus mit einer versöhnenden Gegenkraft ausgestattet seien. Die nannte er mal Benevolence, mal Sympathie und schrieb darüber ein dickes interessantes Buch mit dem Titel "Die ethischen Gefühle". Diese Benevolence sei in jedem Menschen angelegt und nötige ständig dazu, das Wohl der anderen mit zu bedenken.

Nach ihm hat Schopenhauer das Urphänomen des Mitleids zur Wurzel der Gerechtigkeitstugend erklärt. Nun haben für die meisten Heutigen Benevolence und Mitleid eher einen unangenehmen Beiklang von Weichlichkeit und Sentimentalität. Aber es ist die Wahrheit: Erst das Spüren des Leides des anderen, wenn ich ein egoistisches Interesse gegen ihn durchsetzen wollte, hilft mir, fair zu sein. Diese natürliche Regung verleiht abstrakten moralischen Vorschriften oft erst Geltung. Neuerdings findet Schopenhauer kräftige Unterstützung durch den pragmatischen amerikanischen Philosophen Richard Rorty, der kurz und bündig schreibt:
"Der moralische Forschritt ist davon abhängig, dass die Reichweite des Mitgefühls immer umfassender wird. Er ist nicht davon abhängig, dass man sich über die Empfindsamkeit erhebt und zur Vernunft vordringt." Das werden manche Rationalisten nicht gern hören, aber es ist wahr.


Unterstützt wird Rorty u.a. von der feministischen Philosophin Annette Baier, die es für eine willkürliche Erfindung von Moralphilosophen hält, im menschlichen Ich einen kalten Psychopathen zu erblicken, der erst gezwungen werden müsse, sich um die anderen zu kümmern. Das heißt: Fair und gerecht zu sein, kommt einer Naturanlage entgegen und wird erst zu einer Frage der Selbstüberwindung unter Verhältnissen, die Skrupellosigkeit ganz offensichtlich belohnen. Von solchen Verhältnissen sind wir allerdings umgeben, die der bekannte Ex-Manager Daniel Goeudevert zugespitzt so charakterisiert: Unsere Gesellschaft habe sich in eine Ressource und einen Appendix der Wirtschaft verwandelt. Diese Wirtschaft wiederum drohe, ich zitiere: "zu einem bloß noch ökonomischen Regelsystem zu verkommen, das sich von allen gesellschaftlichen Bindungen und Bändigungen'befreit'‚außer von der nur beschränkt haftenden Gesellschaft der Aktionäre."

Wenn die Interessen des Geldes in den ökonomischen Strukturen eine zunehmende Unzuverlässigkeit schaffen, dann wird es für die Menschen immer schwieriger, diesem Druck standzuhalten und im mitmenschlichen Umgang eine Verlässlichkeit zu bewahren, die in den äußeren Verhältnissen schwindet.

Richard Sennett, der amerikanische Soziologe, fragt besorgt: "Wie können Loyalitäten und Verpflichtungen in Institutionen aufrechterhalten werden, die ständig zerbrechen oder immer wieder umgewandelt werden?" Sennett sieht darin die Begünstigung eines Menschentyps, der die Flexibilisierung der Wirtschaft verinnerlicht, der sich also irgendwann auf sich selbst genauso wenig verlassen kann wie auf die unberechenbaren ökonomischen Strukturen.

Aber nun sehen wir also etwas, was auch Sennett erhofft, nämlich dass Menschen sich gegen die Isolierung voneinander wehren, dass sie merken, dass sie enger zusammenrücken müssen und dass ihr Selbstwertgefühl davon abhängt, dass sich andere auf sie verlassen können. Sie wollen ihre soziale Sensibilität lebendig erhalten. Das können wir aus unseren neuen Erhebungen herauslesen. Es wächst wieder eine größere moralische Empfindsamkeit, was übrigens auch indirekt daran zu erkennen ist, dass die Deutschen sich unlängst viel heftiger über Lug und Trug in den Partei-Spenden-Affären aufgeregt haben als über Skandale vom gleichen Kaliber in den 80er Jahren.

Und dann schöpfe ich genau wie Dorothee Sölle Hoffnung aus einer schnell wachsenden internationalen Bewegung, die sich mit den Ungerechtigkeiten der Globalisierung beschäftigt. Da machen sich Teile einer besonnenen, kritischen Jugend auf den Weg und nehmen sich ganz konkrete Missstände vor, die zu einem rapiden Anwachsen der Kluft zwischen Globalisierungsgewinnern und -verlierern führen. Was sich da neuerdings regt, ist kein antiautoritärer revolutionärer Sturmlauf, sondern eher eine Pro-Bewegung von kritischen, besonnenen jungen Leuten, die in den nächsten Jahren noch reichlich von sich reden machen werden.

Aber nicht zu übersehen ist ein gleichzeitiger Trend, der auch mit Fairness bzw. Unfairness zu tun hat und unsere besondere Wachsamkeit herausfordert. Jenseits aller erfreulichen Spuren von gewachsener sozialer Sensibilität und Verantwortungsbereitschaft greift nach dem 11. September und erst recht infolge des Krieges, dessen Ausweitung schon angekündigt ist, in anfälligen Bevölkerungskreisen eine Art von Verfolgungsstimmung um sich. Spontaner und geschürter Argwohn gegen Ausländer und ausländisch aussehende Menschen im Lande ist spürbar angewachsen. Es ist eine Angst, die eine Art Festungsmentalität erzeugt: Niemand mehr reinlassen und drinnen Schluss machen mit Nachsicht, mit Multikulti, liberalem Strafvollzug, Resozialisierungsprogrammen für Täter usw. Die Erfolge der Schill-Partei in Hamburg und neuerdings der Rechten in Dänemark waren vermutlich nur Frühsymptome einer äußerst gefährlichen Strömung. Ahnungslos ist der Westen dabei, den Terroristen einen kaum erhofften Triumph zu verschaffen, falls wir nämlich in unseren Ländern selbst die Vertrauensbasis für eine freiheitliche Demokratie demolieren und mühsame Errungenschaften der Humanisierung aufs Spiel setzen. Leicht wird aus geschürter Verfolgungsangst eine Straf- und Rachestrategie, die genau die Bedrohungen verstärkt, vor denen man sich schützen will.

Das Mitfühlen, das Fairness und Gerechtigkeit fundiert, kann wie eine kälteempfindliche Pflanze leicht kaputtgehen, wenn Bedrohungsängste systematisch zur Begründung eines militanten Stärkekultus gefördert werden. Hat dieser sich durchgesetzt, dann erweckt schon Verdacht, wer sich laut Gedanken über die Unfairness des Westens gegenüber manchen verarmten islamischen Regionen macht, wo der Terrorismus besondere Brutstätten für selbstmörderischen Hass findet. Ich zitiere Orhan Pamuk, den wohl bedeutendsten Schriftsteller der Türkei: "Der Westen hat leider keine Vorstellung von dem Gefühl der Erniedrigung, das eine große Mehrheit der Weltbevölkerung durchlebt und überwinden muss, ohne den Verstand zu verlieren oder sich auf Terroristen, radikale Nationalisten oder Fundamentalisten einzulassen." "Heute" - so fährt Pamuk fort, "ist das Problem des Westens weniger, herauszufinden, welcher Terrorist in welchem Zelt, welcher Gasse, welcher fernen Stadt seine neue Bombe vorbereitet, um dann auf ihn Bomben regnen zu lassen. Das Problem des Westens ist mehr die seelische Verfassung der Armen, Erniedrigten und stets im ‚Unrecht' stehenden Mehrheit zu verstehen, die nicht in der westlichen Welt lebt."

Natürlich muss man auch die Bombenbastler bekämpfen, aber sinnvoll ist es, zugleich die Hintergründe der terroristischen Gewaltbereitschaft - und zwar in selbstkritische Offenheit - zu erforschen. Kommt dabei eigene Unfairness zum Vorschein, heißt das natürlich noch keineswegs, den Terrorismus zu rechtfertigen oder gar eine Schonung der Täter zu billigen. Indessen sollte man sich keine argwöhnische Grundstimmung einreden lassen, die Verstehen, Mitgefühl, Fairness und Toleranz als Schönwetter-Tugenden wie einen Luxus erscheinen lässt, der auf bessere Tage warten soll.

* * *

Noch ein letzte Wort zu Fairness als Tugend. Da kann einem auch die Assoziation von Großmütigkeit, von mildtätiger Großherzigkeit in den Sinn kommen. Lassen Sie mich dieser Interpretation eine Überzeugung entgegenstellen, die sich in mir im Laufe der Jahrzehnte immer fester eingegraben hat - in der Arbeit mit psychisch Kranken, mit sozial Schwierigen, mit Gefangenen und Randgruppen, mit Menschen, die in großer Armut leben. Es hat nichts mit Edelsinn zu tun, wenn man die schlichte Erfahrung macht, dass man über sich selbst und über die eigene Bestimmung in der Gemeinschaft am meisten durch Einfühlung in die scheinbar ganz anderen lernen kann, die als fremdartig, unheimlich, rückständig oder sonstwie minderwertig stigmatisiert sind. Man entdeckt unerwartete Verbundenheiten und Verwandtschaften wie die Chance einer Vervollständigung des eigenen Selbst, aber eben auf der Grundlage von Ebenbürtigkeit.

Niemand, auch keine Nation, kann sich durch noch so großen Reichtum, durch überlegene Rüstung, durch den perfektesten Sicherheitsdienst, durch einen Raketenschutzschild vom Rest der Welt abkoppeln. Wir sind insgesamt untrennbar voneinander abhängig, was der amerikanische Politikwissenschaftler Benjamin Barber gerade auch aus der Tragödie des 11. September treffend herausgelesen hat, als er an Präsident Bush schrieb:

"Terrorismus ist die negative verzerrte Form der gegenseitigen Abhängigkeit, die wir in der positiven und nützlichen Form nicht anzuerkennen bereit sind."

Das besagt: Wenn man künftig alle Anstrengungen hoffentlich darauf richtet, die Welt gerechter zu machen, dann ist dies keine Fairness aus Großmut, sondern nichts weiter als die notwendige Beherzigung der Tatsache unseres lückenlosen gegenseitigen Aufeinander-Angewiesenseins in der Welt.

 

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