Verletzlich - und doch fair?

Fairness-Thementag zu Chancen, Risiken und Nebenwirkungen von Fairness im Blick auf die Verletzlichkeit von Menschen mit Kurzvorträge, Gespräche und Workshops am 22.9.2018 im Haus am Dom, Frankfurt am Main.

Studienleiter Dr. Thomas Wagner begrüßte die Teilnehmer seitens der Rabanus-Maurus-Akademie im Haus am Dom in Frankfurt am Main.

Dr. Norbert Copray, geschäftsführender Direktor der Fairness-Stiftung

"Viele wollen nicht wahrhaben, dass der Mensch verletzlich, verwundbar und zerbrechlich ist. Es ist kein einfaches Thema". Mit diesen Worten führte Dr. Norbert Copray , geschäftsführender Direktor der Fairness-Stiftung in das Thema des Thementages ein: "Niemand konfrontiert sich gern damit. Stattdessen suchen Viele ihre Zuflucht in Distanzierung, in der Vermeidung von Nähe, im digitalen Zeitalter, in der berührungslosen Gesellschaft, die dann kaum noch gesellig ist.

Um sein "Fenster der Verwundbarkeit" – wie es 1987 Dorothee Sölle in ihrem gleichnamigen Buch nannte – zu schließen und nicht verletzbar zu sein, verhärten wir uns in dieser rohen und harten Zeit. Die nicht hart sind, weil es uns am Notdürftigsten mangeln würde, sondern: Sie sind hart, weil es immaterielle, emotionale, soziale und ethische Schäden gibt und geben kann. Also verhüllen wir uns, verbergen uns im Internet und geben vor, andere und anders zu sein als wir sind. Jede und jeder erfährt in seinem Leben, dass Masken nicht wirklich nutzen, um sich zu schützen. Auch die Rolle des Siegers, des Gewinners, des Überfliegers hilft da letztlich nicht wirklich. Schließlich verhindert eine Rüstung jedweder Art, dass man kaum nicht selbst atmen kann, sich die Luft, die Beweglichkeit, die Authentizität nimmt. So hat es Sölle seinerzeit beschrieben, die im nächsten Jahr 90 Jahre alt werden würde.

Etliche, wenn nicht gar viele Menschen unter uns und in unserer Gesellschaft haben schmerzlich erfahren, erfahren müssen, wie verwundbar und verletzlich wir sind. Das können körperliche, vor allem auch seelische Verletzungen und Wunden sein, Traumata, Mikrotraumata und existentielle Wunden. Ihnen folgen oft weitere Verletzungen durch Ausgrenzung, Stigmatisierung, Aggression. Und wieder andere sehen andere verletzt oder sehen deren Verletzlichkeit, gar nicht mal so sehr die eigene. Und sind dadurch motiviert zur Hilfe, zur Annahme des anderen, zur Begleitung und zum Beschützen. Sie können knallhart und heftig werden, wenn sie die von ihnen beschützenden und unterstützen Menschen in der Gefahr von Verletztwerden sehen, gar von einer neuerlichen drohenden Verletzung.

Möchte denn jemand aus Verletzlichkeit heraus andere unfair angehen, um sich zu schützen? Welche Art von Fairness bedarf der verletzliche, der verletzte Mensch? Wie kann der verwundbare und verletzte Mensch fair bleiben, wenn es hart auf hart kommt? Das ist eine zentrale Frage, der wir heute nachgehen wollen. Und der die Frage vorausgeht: Was bedeutet es überhaupt, Mensch und verletzlich zu sein oder gar verletzt? Was bedeutet es für soziale Gebilde wie Organisationen, die auch verletzbar sind und mitunter beschädigt werden? Wie umgehen mit der Unfairness anderer, wenn ich verletzlich und verletzt bin? Ist es überhaupt wünschenswert oder eher selbstgefährdend, fair zu sein? Was riskieren offene Menschen? Wie steht es um den Mut zur Verletzlichkeit?"

Dr. Jutta Czapski

Zu diesen Fragen trugen Dr. Jutta Czapski und Prof. Dr. Hildegund Keul ihre Überlegungen und Erfahrungen vor.

Dr. Jutta Czapski legte mit hoher persönlicher Intensität in einer Art philosophischer Reflexion und Meditation dar, wie Verwundbarkeit zu verstehen ist, wie sie zum Menschen dazu gehört, wie sie den Menschen zum Menschen macht. Sie hatte ein selbstproduziertes Video mitgebracht, dass Verletzlichkeit, Empfindsamkeit, Berührung und Bedürftigkeit so ins Bild setzte, dass die Teilnehmer sichtlich ergriffen waren. Dann griff sie den Ansatz und die Gedanken des litauisch-französischen Philosophen Emmanuel Levinas (1905-1995) auf. Levinas geriet als französischer Soldat 1940 in deutsche Kriegsgefangenschaft. 1942 wurde er in ein Arbeitskommando in Fallingbostel verlegt. Als er 1945 erfuhr, dass seine jüdischen Eltern und Brüder in Litauen der nationalsozialistischen Ausrottungspolitik zum Opfer gefallen waren, schwor er, nie wieder deutschen Boden zu betreten.

Levinas sieht laut Dr. Czapski die Verletzbarkeit des Menschen als Voraussetzung der Mitmenschlichkeit sieht, durch die ein Mensch auf die Verwundbarkeit des anderen antwortet. Ohne die Reaktion, die Achtsamkeit und die Zuwendung des anderen bleibt jeder Mensch mit seiner Verletzlichkeit und seinen Wunden allein. Niemand kann seiner Verletzlichkeit allein gerecht werden. Einem anderen wahrhaft zu begegnen heißt, von einem Rätsel wach gehalten zu werden. Nur wenn ich dem anderen, der Notwendiges zum Leben braucht, dies mit dem Herzen gebe, ist es auch eine wirkliche Gabe. Und dadurch meine Antwort auf dessen Verletztsein, Not, auf seine Verwundbarkeit. Dabei spielt für Levinas das Antlitz des anderen eine entscheidende Rolle, das nicht einfach nur das Gesicht ist, sondern die Empfänglichkeit und Empfindsamkeit des anderen, auch seine Bedürftigkeit, seine Nacktheit, seine Blöße, die nicht man nicht hintergehen kann.

Sie legt eine Spur des Erschütterns ohne Ursache, eine Spur des anderen. Von der Verwundbarkeit, von der Schwäche des anderen her ist zu denken, um ihm gerecht werden zu können. Erst wenn die Gabe an den anderen einem etwas kostet, ins eigene Fleisch schneidet, ist sie wirklich Gabe, Hingabe, und damit Bedingung dafür, sich selbst angesichts des anderen finden zu können. Die Verwundbarkeit ist Ausdruck von Nähe, verlangt nach Achtsamkeit, ist ein Einfallstor für Zuwendung und kann selbst im Schmerz heilsam wirken. Daher gilt es, sich verwundbar zu machen und zu halten, um empfänglich, um kommunikativ, um berührbar zu sein und so einen entscheidenden Ausgangspunkt für Fairness dem anderen gegenüber zu nehmen, dem der andere mit Fairness entgegnen kann.

Prof. Dr. Hildegund Keul

Professorin Hildegunde Keul verdeutlichte wie seit den 1980er Jahren sich "Vulnerabilität" (Verletzlichkeit / Verwundbarkeit) in verschiedenen Wissenschaften (Geistes-, Lebens-, Natur- und Ingenieurwissenschaften) zu einem Schlüsselbegriff wissenschaftlicher Forschung entwickelt. Man fragt nicht nur nach bereits vorhandenen Wunden, sondern nach Verwundbarkeit. Damit kommt eine Zukunftskategorie ins Spiel, die nach gegenwärtigen Risiken und möglichen Schutzmaßnahmen fragt. Vulnerabilität ist zum Fachbegriff geworden in so verschiedenen Feldern wie der Bekämpfung von Krankheit und Armut, in Klimafolgenforschung und Ökologie, in philosophischer Ethik und Friedensforschung, in Medizin und Traumatherapie, in Stadtentwicklungsdebatten oder in den Forschungen zu Resilienz und Glück.

Ein interdisziplinärer "Vulnerabilitätsdiskurs" ist entstanden. In ihrem auch auf aktuelle Ereignisse Bezug nehmenden Vortrag betont Prof. Keul vor allem den Unterschied, in seiner Verwundbarkeit zum Opfer gemacht zu werden oder sich mit seiner Verletzlichkeit anderen selbstbestimmt hinzugeben. Es ist ein gravierender Unterschied, um der Fairness willen verletzlich und verletzt zu sein, oder um der Sicherung der eigenen Macht und Interessen. Darum ist es wichtig, zwischen Victim und Sacrifice zu unterscheiden: Opfer im Sinne von "victim": man erleidet Gewalt, wird verletzt und geschwächt. Opfer im Sinn von "sacrifice": um eines höheren Zieles (der Liebe, der Fairness) willen gibt man etwas freiwillig her und riskiert die eigene Verwundbarkeit. Daraus kann Stärke wachsen. Andere verletzen, sogar beseitigen, um sich selbst unverletzt zu bewahren oder eigenen Verletzungen vorzubeugen, was Prof. Keul eine Herodes-Strategie nennt, ist eine Gewalt, die letztlich Gegengewalt erzeugt.

Vulnerabilität (Verwundbarkeit) und Vulneranz (Fähigkeit und Bereitschaft, Andere zu verwunden) spielen in den Veränderungen, die Europa derzeit bewegen, eine entscheidende Rolle. Denn die Angst davor, verwundet zu werden, übt hier eine unerhörte Macht aus. Wegen der eigenen Verwundbarkeit wird der Ruf nach Sicherheit in den Migrationsdebatten lauter; die Grenzziehungen zwischen Christentum und Islam verschärfen sich; die Angst vor Radikalisierung und Terror kocht hoch. Hildegund Keul beleuchtet diese Problematik aus theologischer Sicht. Sie beschreibt "Herodes-Strategien", die zu unendlichen Gewaltspiralen führen. Und sie fragt nach christlichen Alternativen zum Ruf nach Krieg fragt. Wie hat die junge Kirche nach dem Tod Jesu reagiert, als sie von Gewalt – der Kreuzigung Jesu – zutiefst getroffen war? Was bedeutet dies für heute?

Theologie (und Humanwissenschaften?) bringen auch die lebensförderliche, kreative Seite der Verwundbarkeit ein: human leben erfordert das Wagnis der Verwundbarkeit, das bspw. Eltern freiwillig für ihre Kinder eingehen. Dieses Wagnis eröffnet Leben. Die christliche Perspektive: Menschwerden bedeutet, um der Liebe willen mitten hinein zu gehen in eine verwundete Welt – und damit selbst das Risiko einzugehen, verwundet zu werden. Wer die eigene Verwundbarkeit riskiert, um das Leben Anderer zu fördern, gibt der Andersmacht Gottes Raum: aus Verletzlichkeit wächst Stärke (Kreativität, Verlässlichkeit ...). Am Beispiel der aktuellen Krise der katholischen Kirche angesichts der tausendfach belegten Missbrauchsfälle allein in Deutschland belegte sie, wie um des Schutzes einer Institution willen die Opfer sexuellen Missbrauchs durch Vertuschung nochmals geopfert werden. Findet die Kirche jetzt zu einer neuen Haltung und Handlung, sich selbst lieber für Verwundete und verletzliche Menschen zu opfern als andere zu schädigen und wieder zu opfern um des Selbsterhalts willen?

Die Workshops am Nachmittag befassten sich mit "Verletzlichkeit und Verwundbarkeit in der Lyrik Paul Celans" (Dr. Czaspki), "Das Wagnis der Verwundbarkeit - theologische Aspekte" (Prof. Keul), "Verletzlichkeit und Mut – Fairness sensibel praktizieren" (J. Schmidt M.A.) und "Verwundbarkeit von Organisationen" (Dr. Ulrich Wiek).

In einem der Workshops schloss Dr. Copray die Veranstaltung mit einem Gedichtausschnitt von Dorothee Sölle von 1984:

"Das fenster der verwundbarkeit
Ist meine haut
Ohne feuchtigkeit und ohne berührung
Muss ich sterben
Das fenster der verwundbarkeit
Wird zugemauert
Mein land
Wird zugemauert
Kann nicht leben
Wir brauchen licht
Um denken zu können
Wir brauchen luft um atmen zu können
Wir brauchen ein fenster
Zum himmel"

"Verletzlich - und doch fair?" - eine Kooperationsveranstaltung der Fairness-Stiftung mit Rabanus Maurus-Akademie im Haus am Dom und dem Verein Leserinitiative Publik-Forum.

Fotos © Ute Victor