Buchtipps

Lutz Müller
Lebe dein Bestes
Individuation und Lebenskunst. Walter. 255 Seiten.

" Lebe dein Bestes - ganz"! Was für ein steiler Appell, den sich Lutz Müller bei Hermann Graf Keyserlings Lebensmotto für sein Buch ausleiht. Der Appell liest sich zugleich wie eine Aufforderung zu persönlicher Auferstehung gegen allzu eng gesetzte oder für unüberwindlich gehaltene Grenzen. Lebe dein Bestes ganz, überwinde lähmende Angst und ein Leben, als wenn du schon gestorben wärest. Damit ist die Individuation gemeint: der Schöpfungsprozess, in dem ein Mensch seine individuelle Persönlichkeit - das Selbst - entdeckt, ernst nimmt und entfaltet. Lutz Müller verbindet die Selbstverwirklichung mit der Lebenskunst. Während Individuation ein mehr nach innen gerichteter Prozess der Selbsterkenntnis und Selbstfindung ist, ist Lebenskunst für ihn "die schöpferische Anwendung, Umsetzung und Gestaltung der Einsichten und Erkenntnisse in das Leben hinein". Selbstverwirklichung hat persönliche und soziale Dimensionen.
Lutz Müller ist Psychotherapeut in eigener Praxis, Dozent und Lehrtherapeut am C. G. Jung-Institut in Stuttgart sowie Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Analytische Psychologie. Entsprechend findet sich das Gedankengut des Psychomodells und der Psychotherapie Jungs in seinem Buch wieder. Dazu gehört allerdings auch die Integration anderer Ansätze. Und so spiegeln die gut verständlichen und klaren Ausführungen auch Ideen von anderen wider. Weil Müller sich über die Jahre ein eigenes Integrationsmodell erarbeitet hat, um die verschiedenen Aspekte der Individuation im Zusammenhang differenziert betrachten zu können, bringt die Lektüre auch den Vorteil einer überzeugenden Zusammenschau sonst verstreut vorliegender Betrachtungsweisen.
Müller betont fünf universale Prinzipien des Lebens und der Persönlichkeitsentwicklung. Es geht um Bios, Heros, Logos, Eros und Mystos. Die gewählten Begriffen sind großteils selbsterklärend. Das Buch besteht im Wesentlichen daraus, die fünf Prinzipien so zu beschreiben, dass der Einzelne davon in seiner Selbstbetrachtung und in seiner Neuausrichtung profitiert. Dazu stellt Müller Fragen an den Einzelnen jeweils an den Anfang, erkundet die Aspekte und Symbolisierungen des Prinzips und zeigt die Licht- und die Schattenseiten des Prinzips auf. Nachdem er den Persönlichkeits- und Lebensstil, der jedem Prinzip entspricht, skizziert und dessen Berücksichtigung in Selbsterfahrung und Therapie beschrieben hat, zieht Müller pro Prinzip eine Quintessenz, die an Hand von Schlüsselsätzen Perspektiven für die weitere eigene Entwicklung aufweist. Das Wort "Prinzip" meine keine abstrakten Ausführungen. Müller bemüht sich darum, Bilder zu entwerfen, in denen sich Menschen wieder entdecken können, Erfahrungen einzubeziehen, durch die eigene Erinnerungen und Entdeckungen angeregt werden. "Prinzip" weist auf das Ursprüngliche hin, das jeder Individuation zu Grunde liegende schöpferische Energiemuster, dem wir folgen, dem wir uns verweigern und das wir pervertieren können. Das Gegenteil der Selbstverwirklichung ist die Selbstverfehlung, der Missbrauch der eigenen Persönlichkeit durch sich selbst. Entsprechend sind die Appelle Müllers in seinen Quintessenzen zu lesen: Sie wollen uns hinweisen auf das, was in uns steckt und kultiviert werden darf, kann und auch soll. Mystos ist der alle anderen Prinzipien integrierende Ursprung, die ganzheitliche Identität, das spirituelle Ziel des eigenen Selbst. Müller macht es auch durch die Bezüge der Persönlichkeitsstile aufeinander sichtbar. Mystos lässt sich als Geheimnis der persönlichen Grenzüberschreitung, als Fähigkeit zur Transzendenz verstehen. Sie ist die Freiheit, die von größerer Freiheit kommt. Die Kraft, die wir erfassen können. Wir begegnen ihr in den mythischen Symbolen der heiligen Hochzeit, von Auferstehung und Himmelfahrt. Und die integrative Dimension der anderen Prinzipien in Mystos wird sichtbar, wenn es im Johannesbrief heißt: Wir sind aus dem Tod ins Leben übergangen, weil wir die Geschwister lieben". Mehr Auferstehung, mehr Selbstverwirklichung ist nirgends.

Dr. Norbert Copray