Buchtipps

Ausdruck gesellschaftlichen Missstands?

Stichwort:
Suizid

Die Selbsttötung (der Suizid) von Menschen gehört zum gesellschaftlichen Tabubereich. 15000 Suizide gibt es jährlich in Deutschland , womit Deutschland international auf Platz 6. Dazu kommen die 150000 bis 300000 geschätzten Suizidversuche. Bei Suizid von Kindern und Jugendlichen unter 25 Jahren nimmt Deutschland die internationale Vorrangstellung ein; es gibt hierzulande zehn mal mehr Kinder- und Jugendlichensuizide als Kinder und Jugendliche an Drogenmißbrauch zu Tode kommen. Der angesehene Wiener Psychoanalytiker Erwin Ringel führte 1984 in seinem Buch "Der Selbstmord" aus, "daß in vielen Fällen nicht so sehr der einzelne, der Selbstmord begeht, krank ist (oder sein muß), sondern die Gesellschaft, in der er zu leben gezwungen ist". In der Sozialpsychologie gilt der Suizid als Anzeichen gesellschaftlichen Mißstands. Doch Suizidstatistik stört niemand. Jeder Suizid kann individualisiert werden; die Gesellschaft spricht sich frei. In einer suizidalen Kultur, die ihren Profit aus der Vernichtung und dem Verbrauch von Natur, Produkten und Menschenkraft zieht, ist dies nicht weiter verwunderlich. Um so schlimmer für die, deren Kinder Suizid begangen haben. Die Annahme einer solchen Erfahrung kann Menschen überfordern. Helga Ide beschreibt diesen Prozeß in "Wenn Kinder sich das Leben nehmen" ebenso eindruckvoll wie hilfreich und liefert viele Adressen von Selbsthilfegruppen für verwaiste Eltern. Solveig Böhle hat mit ihrem einfühlsamen und ehrlichen Buch "Damit die Trauer Worte findet" ebenfalls wichtige erste Hilfe angeboten, wenn Menschen durch den Suizid eines anderen, eines Kindes, des Partner, der Mutter, unmittelbar betroffen sind.

Entsprechend den Kindern- und Jugendlichensuizide ist auch besonders bei den über siebzigjährigen Männern und den über sechzigjährigen Frauen ein deutlicher Anstieg der Suizidrate zu beobachten. Das sorgfältige und umfassende Buch "Alt und lebensmüde" des Psychiaters und Psychoanalytikers Martin Teising greift diese Situation auf und beleuchtet ihre verschiedenen Aspekte vor allem für jene, die mit alten Menschen zu tun haben. Unvermeidlich ist in diesem Kontext die Frage nach Recht, Würde und Humanität des Suizids. Wenn sich Menschen in auswegloser Situation glauben, seien sie für unheilbar krank erklärt worden wie Jo Roman, bei der ein fortgeschrittener Brustkrebs diagnostiziert wurde, oder seien sie sozial verlassen und einsam, gerade zu geächtet, wie es Jean Amery empfand, oder seien sie des Lebens überdrüssig, stellt sich die Frage nach dem Freitod.

Der Jurist, ehemalige Oberstadtdirektor und NDR-Intendant Martin Neuffer geht diese Frage frontal an. Er protestiert mit seinem "Nein zum Leben" gegen 'Ja zum Leben'-Propaganda, die die Existenz menschlichen Lebens als Individuum wie als Gattung absolut setzen. Er hält menschheitliches und inviduelles Leid für Kritierien, an denen die Entscheidung Ja oder Nein zum Leben gemessen werden könne. Wer wolle einem Menschen absprechen, Leidensüberforderung für sich festzustellen und daraus seine Konsequenzen zu ziehen. Zum Versagen evolutionärer Rahmenbedingungen des Lebens gehöre auch die "Perspektivlosigkeit der Evolution", denn in etwa fünf Milliarden Jahren, wenn sich die Sonne zu einem roter Riesenstern entwickelt hat, werde das menschliche Leben ohnehin beendet sein. Das bis heute überschaubare Wissen über die rhythmische Entwicklung des Kosmos biete dem Menschen keinen wirklich dauerhaften Platz. Vergeblichlichkeit sei sein Leben. Die Religionen bieten entsprechenden Trost an, doch der sei nur vordergründig. Denn ein System, in dem Lebewesen für andere durch Tod Platz machen müßten, ließe sich statt großartige Schöpfung auch als möderisch bezeichnen.

Was tut ein Mensch, wenn er von einem anderen um Mithilfe beim Freitod gebeten wird? Vor diese atemberaubende Frage wurde Dereck Humphrey durch seine schwerkrebskranke Frau gestellt. Seine Odyssee durch die Fallgruben einer solchen Hilfe schildert sein Buch "In Würde sterben". Sie bringt ihn auch dazu, eine Vereinigung zu gründen, die für das Recht unheilbar Kranker eintritt, ihre Leben freiwillig zu beenden. Jo Roman entwickelt in "Freiwillig aus dem Leben" die Zukunftsvorstellung von einem "Exit House", " in der das Recht der Menschen, ihr Leben zu beenden, respektiert wird und die zu einem Freitod in verantwortungsvoller Weise Beistand leisten würde". Doch solche Sterbehilfe kann auch in Grauzonen abgleiten, wo "das Geschäft mit der Sterbehilfe" ein Amalgam aus Profitsucht und nihilistischer Ideologie wird. Die Journalisten Georg Bönisch und Hans Leyendecker haben vor allem das Wirken der "Deutschen Gesellschaft für Humanes Sterben" aufgedeckt, die einer vernünftigen gesellschaftlichen Reflexion des Suizids und der Sterbehilfe abträglich war.

Natürlich haben Menschen "das Recht auf den eigenen Tod", und gegen passive Sterbehilfe, wie der Bundesrichter Klaus Kutzer im gleichnamigen Buch erklärt, ist auch nichts einzuwenden. Lebensverlängernde Maßnahmen bei nach menschlichem Ermessen aussichtlosem Krankheitsstand in eine Grundversorgung zu überführen, die dem Patienten ein würdeloses Sterben erst möglich macht, scheint sogar erforderlich sein, will man nicht riskieren, Menschen um die Würde ihres Todes zu bringen. Häufig sagen Patienten dann selbst in wachen Stunden, daß sie jetzt sterben möchten, wie die Gründerin der Hospizbewegung Cicely Saunders in ihrem Buch "Hospiz und Begleitung im Schmerz" berichtet. Sehr selten, viel selterner als Medien annehmen, fordern Patienten "Töte mich!". Der reformierte Theologe Harry M. Kuitert geht da sehr weit. Gegen die Bitte um einen sanften Tod, gegen Sterbehilfe gebe es kein schlüssiges theologisches Argument. Wenn das Leben Geschenk Gottes ist, dann heißt das nicht, das jemand zum Leben verdammt ist, gegen seinen Sinn weiterleben muß, sondern nur, daß er nicht leichtfertig und willkürlich, sondern nach eingehender Prüfung dieses Geschenk zurückgeben kann. Äußerst schwierig ist es, von außen herauszufinden, ob ein Mensch freiwillig oder gezwungenermaßen aus dem Leben schied. Was heißt "freiwillig", wenn er den Suizid als Schlußstrich unter seine Lebensbilanz setzt? Es bleibt der Eindruck, daß in den meisten Fällen zu einem schwerwiegenden Verhängnis auch noch das völlige Alleinsein und Unverstandensein hinzukommt, wenn es nicht selbst Inhalt der Suizids ist. So brauchen wir nicht nur Hospize für Sterbende, sondern viele, viele Hospize gegen seelisch-soziale Armut, Hospize für Lebensmüde.

Dr. Norbert Copray


Rezensierte Bücher:

Solveig Böhle: Damit die Trauer Worte findet. Scherz. 128 Seiten.

Georg Bönisch/Hans Leyendecker: Das Geschäft mit der Sterbehilfe. Steidl. 272 Seiten.

Derek Humphrey: In Würde sterben. Carlsen. 240 Seiten.

Helga Ide: Wenn Kinder sich das Leben nehmen. Kreuz. 111 Seiten.

Harry M. Kuitert: Der gewünschte Tod. GTB.

Martin Neuffer: Nein zum Leben. Fischer 11342.

Jo Roman: Freiwillig aus dem Leben. Ein Dokument. Knaur 84009.

Cicely Saunders: Hospiz und Begleitung im Schmerz. Herder-Spektrum 3213.

Johann-Christoph Student: Das Recht auf den eigenen Tod. Patmos. 155 Seiten.

Martin Teising: Alt und lebensmüde. Reinhardt. 196 Seiten.