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Ungerechtigkeit bekämpfen geht vor

Konzepte für eine gerechte Gesellschaft reichen nicht für gemeinsame Praxis

Soziale Gerechtigkeit wird ein Hauptthema des Bundestageswahlkampfs 2013 – mit oder ohne Zutun der Parteien. Denn das Thema brennt vielen Menschen unter den Nägeln. Wichtig werden Antworten auf konkrete Fragen der praktischen Gerechtigkeit, zugespitzte Problemanzeigen und Lösungsvorschläge. Den Ausgang nimmt die Debatte also bei den Ungerechtigkeiten, so wie Amartya Sen seine "Idee der Gerechtigkeit" angelegt hat. Es geht ihm nicht darum, eine perfekt gerechte Gesellschaft zu entwerfen, sondern Argumente zu sammeln, zu bewerten und für konkretes Handeln zu überlegen, die wirksam helfen, Ungerechtigkeit zu überwinden. So klärt er etwa, welche Ansprüche Gerechtigkeit stellt. Der Wirtschaftsnobelpreisträger, Philosophie- und Ökonomieprofessor geht von John Rawls Überzeugung aus, dass "die Priorität der Fairness die Basis für die Entwicklung einer Theorie der Gerechtigkeit bilden muss". Zugleich geht er darüber hinaus, weil er den angestrebten gerechten Institutionen und Strukturen menschliche Eigenschaften daneben stellt wie verstehen, mitfühlen und argumentieren gleichberechtigt. Auf ihnen fußt Sens Perspektive, wie und worin die Gesellschaft gerechter gemacht werden kann.

Ronald Dworkin, Rechts- und Philosophieprofessor, kommt von anderer Warte. Er meint mit "Gerechtigkeit für Igel" keine Tierethik, sondern eine Grundlegung der Moralphilosophie. Darin will er beweisen, dass es unsere Aufgabe ist, wahre Werte, denen wir uns verpflichtet wissen, widerspruchsfrei zu einer unteilbaren Einheit zu formen. Dabei zeige sich die Wahrheit einer moralischen Aussage am besten Argument: "Von Interesse ist nicht, ob moralische oder ethische Urteile wahr sein können, sondern welche von ihnen wahr sind." Damit sind postmoderne und relativistische Positionen abgelehnt. Doch die Aufgabe, eine widerspruchfreie Einheit als wahr erkannter Werte zu formen, ist eine Dauerbaustelle, die alltagspraktisch nicht eingelöst werden kann.

Eine Dauerbaustelle ist auch die "Generationengerechtigkeit", der Jörg Tremmel eine vielseitige Abhandlung gewidmet hat. Etliche kleinteilige Fragen räumt er ab, um einen klaren Blick für zentrale Perspektiven zu gewinnen. Fragt sich nur, ob Generationengerechtigkeit überhaupt die Diskontinuität von Entwicklung ausreichend in den Blick bekommt, um Gerechtigkeit über Jahrhunderte hin als sinnvolles Projekt zu verfolgen. Eng verbunden damit der Report "Global aber gerecht" von vier Institutionen, die den Kampf gegen negative Folgen des Klimawandels in ein Konzept der Entwicklungspolitik stellen, das wiederum in eine globale Gerechtigkeitsperspektive eingebettet ist. Der Report liefert belastbare Fakten und einen Durchblick auf die Wechselwirkung von Klimawandel und Armut. Dazu gibt es für einen "Global Deal" zehn Elemente, die Klimaschutz und Gerechtigkeitspraxis als zwei Seiten einer Medaille zeigen. Hier kann man die universale Dimension der Gerechtigkeit erkennen, die gerade in theologischer Perspektive "individuelle und kollektive, politische, soziale und religiöse Gerechtigkeit" in einem Wechselverhältnis sieht, wie Markus Witte in "Gerechtigkeit" schreibt. Der evangelische Sammelband spannt den Bogen vom Gerechtigkeitsverständnis in der altorientalischen Rechtsgeschichte über die Gerechtigkeitskonzeptionen des Neuen Testaments bis zur systematischen Reflexion der Gerechtigkeit in Dogmatik, theologischer Ethik, Religionswissenschaft mit Schwerpunkt Islam und praktischer Theologie. Vorzüglich präsentiert Felix Heidenreich "Theorien der Gerechtigkeit", der von der Antike bis Sen zentrale Konzepte sehr eingehend vorstellt und mit aktuellen Problemanzeigen abschließt. So gilt: Auch wenn wir nicht wissen, wie inklusive künftiger Generationen oder inklusive der Tiere eine gerechte Welt beschaffen sein sollte, so können wir doch wissen und danach handeln, was an Ungerechtigkeiten zu vermeiden und zu bekämpfen sind.

Norbert Copray


Ronald Dworkin
Gerechtigkeit für Igel.
Suhrkamp. 813 Seiten. 48 €

Felix Heidenreich
Theorien der Gerechtigkeit
Barbara Budrich/UTB 3136. 16,90 €

Potsdam-Institut/Misereor u.a.
Global aber gerecht
C.H.Beck. 240 Seiten. 19,90 €

Amartya Sen
Die Idee der Gerechtigkeit
dtv 34719. 493 Seiten. 14,90 €

Jörg Tremmel
Eine Theorie der Generationengerechtigkeit
Mentis. 340 Seiten.

Markus Witte (Hg.)
Gerechtigkeit
Themen der Theologie 6. Mohr Siebeck/UTB 3662. 13,99 €