Buchtipps

Was ist gerecht?

Solidarische Politik kennt keine Grenzen

Kann ein Mann gerecht sein? Diese Frage schleuderte Olympe de Gouges 1791 den französischen Revolutionären mit ihrem Manifest "die Erklärung der Rechte der Frau und Bürgerin" entgegen. Denn die weibliche Hälfte der Bevölkerung war von den Anliegen der Revolution ausgeschlossen, indem sie nur die "Rechte des Mannes und Bürgers" formulierten und durchsetzten. Wie sehr das Gerechtigkeitsanliegen von de Gouges mit der "Geschichte und Symbolik der Gerechtigkeit" verbunden ist, zeigt der Katalog der Wanderausstellung "Justitia ist eine Frau" der Juristin Barbara Degen. Sorgfältig beschrieben mit vielen farbigen Fotos und Dokumenten werden 23000 Jahre Menschheitsgeschichte und damit Gerechtigkeits- und Ungerechtigkeitsgeschichte vorgestellt, die eng mit damit verbunden ist, inwiefern Justitia eine Frau war und womöglich immer noch ist.

Nicht von ungefähr hat also die Philosophin Martha Nussbaum in "Die Grenzen der Gerechtigkeit" drei Schlüsselprobleme identifiziert, die männlich geprägte Gerechtigkeitstheorien außer Acht lassen: 1. Wie steht es um Gerechtigkeit und Bürgerrechte in Bezug auf körperlich und geistig behinderte Menschen? 2. Wie lassen sich gerechte und menschenwürdige Bedingungen international durchsetzen? 3. Wie lässt sich der Umgang mit Tieren in die Vorstellung von sozialer Gerechtigkeit einbeziehen? Sie etabliert für die Antworten einen "Fähigkeitsansatz", der von zehn Fähigkeiten eines Menschen ausgeht. Ihr Ansatz beansprucht universelle Geltung, ist aber auch entwicklungsoffen für neue Aspekte. Mit ihm kann geklärt werden, ob ein "bestimmter Staat dazu in der Lage ist, seinen Bürgerinnen und Bürgern eine Reihe wesentlicher Fähigkeiten zu gewährleisten". Daher gehört zu einem solchen Gerechtigkeitsansatz nicht nur Vertragstheorie, sondern auch, Gefühle wie Mitgefühl und Wohlwollen einzubeziehen.

Was die "Kennzeichen einer transnationalen solidarischen Politik" sind, verhandelt die Philosophin Franziska Dübgen in ihrer Dissertation "Was ist gerecht?". Die weit ausholende und subtil argumentierende Arbeit liefert im Kontext aktueller Tendenzen der Entwicklungszusammenarbeit, der Diskurse über Armut und der Ansprüche transnationaler Gerechtigkeit ein Modell, das politische, ökonomische und wissensproduktive Aspekte der Gerechtigkeit zusammen führt. In der Konsequenz verdeutlich sie die erforderlichen grenzüberschreitenden Praktiken von Solidarität am Operndorf Christoph Schlingensiefs in Burkina Faso und am Weltsozialforum. Zur Gerechtigkeit gehört, für globale Bedingungen zu sorgen, damit Menschen ihre Fähigkeiten wahrnehmen können (vgl. auch das Buch von Lisa Herzog im nächsten Beitrag).

Erkenntnisse aus der Gerechtigkeitspsychologie, wie sie der Band "Soziale Gerechtigkeit" präsentiert, sind hilfreich, gehen doch soziale Konflikte laut Leo Montada in diesem Buch nahezu ausschließlich auf Gerechtigkeitskonflikte zurück. Sie werden im Blick auf Familienarbeit, Bildung, ökonomisches Handeln, Organisationen, Sozialstaat und interkulturelle Belange thematisiert. In dem Band finden sich Beschreibungen und Belege für die tatsächliche Wirkung von Fairness-Coaching und -Training bei Führungskräften. Die Gerechtigkeitsvorstellungen in allen Ländern ähneln einander, auch wenn Gerechtigkeitsaspekte unterschiedlich ins Verhältnis gebracht werden.

Norbert Hoersters Frage "Was ist eine gerechte Gesellschaft?" ist insofern zielführend. Denn das ist für den Philosophen "eine Gesellschaft, in der das Zusammenleben der Menschen in wesentlichen Hinsichten durch gerechte Normen geregelt ist", auf die sich Menschen einigen und die immer wieder aktualisiert werden müssen. Doch wie kommt man in der "Spannung zwischen intuitiven Urteilen und unseren Grundsätzen" dazu, fragt der US-amerikanische Philosoph Michal J. Sandel. Er setzt sich mit den unterschiedlichen Ansätzen dazu auseinander, um schließlich dem Ansatz den Vorzug zu geben, Gerechtigkeit als "Tugend zu kultivieren und über das Gemeinwohl nachzudenken". Wie eine "Politik des Gemeinwohls" aussehen könnte, skizziert er nur kurz.

Norbert Copray


Barbara Degen
Justitia ist eine Frau
Geschichte und Symbolik der Gerechtigkeit. Barbara Budrich. 169 Seiten. 16,90 €

Franziska Dübgen
Was ist gerecht?
Kennzeichen einer transnationalen solidarischen Politik. Campus. 330 Seiten. 39,90 €

Mario Gollwitzer u.a. (Hg.)
Soziale Gerechtigkeit
Was unsere Gesellschaft aus den Erkenntnissen der Gerechtigkeitspsychologie lernen kann. Hogrefe. 210 Seiten. 24,95 €

Norbert Hoerster
Was ist eine gerechte Gesellschaft?
Eine philosophische Grundlegung.  bsr 6108. 144 Seiten. 12,95 €

Martha Nussbaum
Die Grenzen der Gerechtigkeit
Behinderung, Nationalität und Spezieszugehörigkeit. Suhrkamp. 600 Seiten. 36,90 €; ab 14.7. als Tb. 24 €

Michael J. Sandel
Gerechtigkeit
Wie wir das Richtige tun. Ullstein. 413 Seiten. 21,99 €; als Tb. 10,99 €