Buchtipps

Sich aushalten in einer komplexen Welt

Auf dem Weg zu einer Weltweisheit ohne Weltflucht

Dass es uns gesellschaftlich an Weisheit fehlt, ist täglich mit Händen zu greifen. Anstatt auf Expertenrat zu setzen, wäre es wichtiger, auf Weise zu setzen. Sie würden das, was wirklich zählt und die Gesellschaft zusammen hält, stärker gewichten als das, was sich auszahlt. Über das, was uns fehlt, hat der Philosoph und Journalist Gert Scobel, eine dickes Buch geschrieben: „Weisheit“. Scobel: „Was Weisheit ausmacht, ist der richtige, angemessene Umgang mit Komplexität, der von einer Haltung der Aufmerksamkeit, der Leichtigkeit und Gelassenheit geprägt ist im Bemühen darum, die Mitte zu finden. Weisheit stellt ein Bemühen dar, die zuweilen undurchschaubare Komplexität der Welt nicht nur auf unzulässige Weise zu reduzieren, sondern vielmehr zu versuchen, ihr Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, ohne sie und die damit verbundenen Probleme einfach zu ignorieren“. Am Ende des Buches hat man diesen Satz in kaum zählbaren Varianten gelesen und wird ihn infolgedessen nicht mehr vergessen. Zugleich ist man die kreisenden Gedanken des Autors mitgegangen, um Weisheit auf den Begriff zu bringen, was aber nicht wirklich gelingen kann, denn das gehört gerade zur Weisheit. Dafür werden Elemente der Weisheit, Charakteristika des Weisen, Übungen zur Weisheit beschrieben und in Bezug gesetzt zur Komplexität von Welt und Realität. Scobel bettet seine Überlegungen in buddhistische Traditionen ein, abgesehen von einem Ausflug in das Denken des Nikolaus von Kues. So bleibt es, bis auf kurze Passagen zu Platon, Martin Heidegger und Rene Descartes sowie summarischen Einbezugs mystischer Philosophen oder Theologen bei seltenen Bezügen zur Philosophie, insbesondere zur antiken Philosophie, die doch zur etwa gleichen Zeit wie die asiatischen Lehren zum Weisheitsdenken vordrangen. Ungemein dicht und intensiv sind hier die Vorsokratiker, die in einmaliger Weise mit allen Qellentexten in Altgriechisch und Deutsch von M. Laura Gemelli Marciano in drei Bänden präsentiert werden. Jetzt ist dieses Werk komplett und bietet von Parmenides bis Empedokles in Band 2 und von Anaxagoras bis Leukipp und Demokrit in Band 3 neben Lebens- und Werkbiographien dar, was man braucht, um diesem ursprünglich-philosophischen Nachdenken nahe zu kommen. Mit Gottfried Wilhelm Friedrich Hegel (1770-1831) gibt es einen deutschen Philosophen, der wie kaum ein anderer die Entstehung von Weisheit in Bezug auf Komplexität reflektiert und dabei mystische, systemische und transzendentale Perspektiven einbezieht. Sein Werk lässt sich mit dem „Hegel-Lexikon“ auf ganz untypische Weise erschließen, zumal es auch eine Werkbiographie und eine Hinführung zu jedem seiner wichtigen Werk beinhaltet. So ist das „absolute Wissen“ bei Hegel eben die durch Erfahrung hindurchgegangene und über sie hinaus erwachte Weltweisheit, die aber der Welt nicht mehr verfallen kann. Ganz anders, aber nicht minder gründlich ist Edmund Husserl (1859-1938) vorgegangen, der unser Bewusstsein davon abbringen wollte, vorschnell etwas wahrzunehmen und zu beurteilen, sondern sich ganz dem zuzuwenden, was sich uns in unserem Bewusstsein zeigt. Weisheit wäre demzufolge zu erkennen, wie sehr wir beziehungsweise unser Bewusstsein mit allem anderen verknüpft ist. Ohne die Komplexität der Welt gibt es keine Weisheit. Das stellt auch Scobel fest, ohne Husserl zu erwähnen, dafür mit Erkenntnissen der Gehirnwissenschaft. Mit dem Husserl-Lexikon kann man sich die Philosophie dieses Gelehrten erschließen, leider ohne Werkbiographie und Werkeinführungen. Das liefert auch nicht das „Lexikon Existenzialismus und Existenzphilosophie“, dem Philosophen ab Sören Kierkegaard zugerechnet werden. Kierkegaard war der heftige Gegenspieler zu Hegels Denkansatz. Sowohl auf Hegel wie auf Husserl und Kiergegaard war Jean Paul Sarte bezogen, der sich Weisheit ohne politisches Engagement und das Risiko, sich schmutzige Hände zu machen, nicht vorstellen konnte. Eine nur in Betrachtung der Welt versunkene Weisheit, die zwar das Mitgefühl gegenüber leidenden Wesen und die Verbundenheit mit ihnen durch Meditation oder Yoga in sich stärkt, ist ebenso für Friedrich Nietzsche undenkbar. Das wäre Weltflucht. Im „Nietzsche-Lexikon“, das sein Werk sehr gut aufschließt, wird wie etwa in seiner „Fröhlichen Wissenschaft“ oder in „Also sprach Zarathustra“ deutlich, dass es Weisheit nicht ohne Selbsterkenntnis, Selbstzweifel und Weltveränderungen gibt, aber auch nicht, ohne sich angesichts der durch die Komplexität gegebene Halt- und Bestandslosigkeit auszuhalten.

Dr. Norbert Copray


Gert Scobel, Weisheit, Über das, was uns fehlt. Dumont. 478 Seiten. 24,90 €

M. Laura Gemelli Marciano, Die Vorsokratiker, Bd. 2: 448 Seiten. 49,90 €, Bd. 3: 636 Seiten. 54,90 €, Artemis & Winkler

Paul Cobben (Hg.), Hegel-Lexikon, Primus. 552 Seiten. 79,90 €

Hans-Helmut Gander (Hg.), Husserl-Lexikon, WBG. 335 Seiten. 79,90 €

Urs Thurnherr/Anton Hügli (Hg.), Lexikon Existenzialismus und Existenzphilosophie, WBG. 348 Seiten. 79,90 €

Christian Niemeyer (Hg.), Nietzsche-Lexikon, WBG. 472 Seiten. 79,90 €