Buchtipps

Die Kunst des Zuhörens

Michael P. Nichols
Die Kunst des Zuhörens
Einander verstehen im Alltag und in schwierigen Gesprächen. rororo 61359.

Gegen die Dauergeschwätzigkeit der Kommunikationsindustrie machen die Menschen die Schotten dicht, um im Dauerschwall nicht unterzugehen. Von Kommunikation kann auch nur am Rande die Rede sein. Denn wirkliche Kommunikation ist ein Verständigungsprozess. Der beginnt mit Zuhören und das ist anstrengend. Zunehmend anstrengender, denn von der Unterhaltungsindustrie und knappem Emailverkehr in die Irre geführt, glauben viele, Verständigung sei das natürliche Produkt von Informationen und Hinweisen. Entsprechend unverstanden fühlen sich viele Menschen und andere wundern sich, wie Kommunikation ins Leere läuft. Für alle, die sich unverstanden fühlen, haben pfiffige Therapeuten Techniken entwickelt. Durch geschickte Anpassung an die Kommunikation des Gesprächspartners fühlt sich dieser verstanden. Doch sich verstanden fühlen und verstanden worden sein, sind zweierlei. Also führt kein Weg um den Aufwand der Kommunikation und vor allem des Zuhörens herum, wer verstehen will und verstanden werden will.

Das Buch „Die Kunst des Zuhörens“ des Therapeuten Michael P. Nichols ist ein unvergleichliches Kompendium, mit dessen Hilfe alle Aspekte des Zuhörens in den Blick genommen und praktisch verbessert werden können. Der Grundgedanke ist entscheidend, Verständigung und Zuhören nicht als etwas Selbstverständliches zu nehmen. Zuhören bedarf der bewussten Übung. Sie ist eine Kunst, die sich natürlicher Voraussetzungen bedient, aber deswegen noch nicht gelingt, sondern zusätzlicher Information und Anstrengung braucht. Dazu gehört der Blick auf sich selbst als Zuhörer und die Selbstblockaden, die das Zuhören schwierig machen oder gar zum Scheitern bringen. Dazu gehört die Wahrnehmung des Anderen und seiner kommunikativen Eigenarten, die uns vielleicht das Zuhören als Zumutung erscheint. Dazu kommen die Schritte, die notwendig sind, will ein Gespräch zum Verstehen fortschreiten. Nichols erfasst gründlich, wie Zuhören scheitern oder erfolgreich sein kann. Am Zuhören hängt die ganze Kommunikation und damit die Erfüllung der Sehnsucht der Menschen, verstanden zu werden. Zu den Gründen, warum Menschen einander nicht zuhören, zählen eigene Bedürfnisse, die unbedingt beachtet werden wollen, Vorurteile, die die Wahrnehmung vorgeben, emotionale Reaktionen, die eine Distanzierung-Annäherung-Eskalation in Gang setzen. Nichols zeigt in leicht fassbarer Sprache auch anhand sehr guter Beispiele, wie Menschen einander erreichen können. Von der populär gewordenen Unterscheidung in der Geschlechterkommunikation zwischen Männern und Frauen hält Nichols nicht viel: „Es mag ja sein, dass sich die Gesprächsstile von Männern und Frauen unterscheiden, aber es ist an der Zeit, mit übertriebenen Klischeevorstellungen und mit der Glorifizierung solcher Unterschiede aufzuräumen“. Dazu bedarf es – wie stets beim Zuhören – vor allem der Empathie. Ohne engagierte Bereitschaft, sich in den anderen hinein zu versetzen und dabei sich selbst zurück zu stellen, dürfte weder Zuhören noch Verständigung gelingen. Allerdings hat Empathie auch ihre Tücken. Sie bedeutet auch für Nichols keine Selbstverleugnung, sondern höchste Aktivierung des Selbst in seiner Achtsamkeit. Umfassend haben Arthur P. Ciaramicoli und Katherine Ketcham den „Empathie-Faktor“ (dtv 24245) untersucht und eine Anleitung zu hilfreicher Empathie gegeben, die auch empathisches Zuhören und eine Bewältigung der dunklen Seiten der Empathie einschließt. Ohne Kenntnisse der Empathie, die von Mitgefühl zu unterscheiden ist, ist vor allem in schwierigen Situationen kein Fortschritt zu erwarten, sondern eher, das sich die Gesprächspartner tiefer miteinander verstricken. Konzentration, Aufmerksamkeit, Neugier und Anteilnahme sind die Fundamente des Zuhörens. Wenn auch nicht alle von Nichols angesprochenen Aspekte neu sind, so ist es doch ihre Komposition zu einer ultimativen Kunstlehre des Zuhörens, die im Zeitalter des Laberns und des Drüberweghörens höchsten Stellenwert verdient.

Dr. Norbert Copray