Buchtipps
Selbstbezogenheit, Siegermentalität und Karrierebesessenheit
Hans-Jürgen Wirth
Narzissmus und Macht
Zur Psychoanalyse seelischer Störungen in der Politik. Psychosozial.
439 Seiten
Vor 25 Jahren erschütterten ein politischer
Skandal und ein Suizid die westdeutsche Gesellschaft. Der Ministerpräsident
von Schleswig-Holstein, Uwe Barschel, war wegen Vorwürfen, mit infamen
Methoden seinen Konkurrenten bei der Landtagswahl, Björn Engholm, attackiert
zu haben, vom Amt zurück getreten. Später hatte er sich bei dem
vorgeblichen Versuch, sich zu rehabilitieren, in Genf in der Badewanne das
Leben genommen. Selbst der Suizid wurde noch als Tat Dritter getarnt, um die
Nachwelt über die eigene Person zu blenden. Sechzehn Jahre demonstrierte
Helmut Kohl selbstgefällige Machtfülle, die bis zur Selbstidentifikation
mit dem Staat reichte und in korrupter Praxis endete. Wenig später stand
die 68er Generation zur Debatte mit ihren angeblich bis heute unklaren Grenzziehungen
gegenüber der Gewalt als Mittel in der Politik. Der Krieg im Kosovo lehrte
nicht wenige 68er und ihre Gegner, wie schnell konkrete Umstände prinzipielle
Positionen das Fürchten lehren können.
Viermal hält der Psychotherapeut Hans-Jürgen Wirth sein psychoanalytisches
Brennglas über politische Szenarien der Zeitgeschichte, in denen „Narzissmuss
und Macht“ wie siamesische Zwillinge der modernen Gesellschaft sichtbar
werden. Mikroskopisch genau und mit solider politischer Psychologie untersucht
er die Innenausstattung der Macht bis in die Zurichtung ihrer Agenten und
die Affekte der von ihr Betroffenen hinein. Heraus kommt ein Meisterwerk politischer
Psychoanalyse, in dem das Zeitalter des krankhaften Narzissmus (es gibt auch
einen gesunden Narzissmus) durch seine politischen Protagonisten verkörpert
und verständlich wird. Barschel, Kohl, die 68er und Milosevic sind machtvolle
Gestalter ihres Einflussbereiches, aber sie offenbaren zugleich die Unterwerfungs-
und Schutzbedürfnisse der Beherrschten. Denn diese erst machen aus den
Machtgierigen Mächtige. Wirth: „Dazu gehört auch die Verzahnung
der individuellen Psychopathologie des einzelnen Politikers mit den politischen
Strukturen, die er vorfindet“. Und weiter kann Wirth zeigen, dass „gesellschaftliche
Macht gesucht wird, um innere Gefühle von Ohnmacht, Hilflosigkeit und
Minderwertigkeit zu kompensieren. Macht übt deshalb gerade auf solche
Personen eine unwiderstehliche Anziehungskraft aus, die an einer narzisstischen
Persönlichkeitsstörung leiden. Ungezügelte Selbstbezogenheit,
Sieger-Mentalität, Karriere-Besessenheit und Größenphantasien
sind Eigenschaften, die der narzisstisch gestörten Persönlichkeit
den Weg in die Schaltzentralen der Macht ebnen“. Die Analyse führt
aber in die Irre, wenn eine kausale Kette korrumpierter und korrumpierender
Macht einfach an den Mächtigen befestigt wird. Denn es ist das „weit
verbreitete Pauschalurteil, alle Politiker seien entweder korrupt oder wahnsinnig,
Ausdruck einer zynischen und zugleich selbstgerechten Haltung, die Fehler
nur bei anderen wahrzunehmen bereit ist“. Insofern erkennen wir uns
in den von Wirth vorgestellten Analysen selbst wie in einem Spiegel. Denn
zu jedem narzisstisch Erkrankten gehören Komplementär-Narzissten,
die ihm die Steigbügel halten: Reiner Pfeiffer und Freya Barschel, Hannelore
Kohl und Wolfgang Schäuble, Mira Milosevic und die Serben. Das kann auch
ein ganzes Volk sein. Hier leistet politische Psychoanalyse nicht nur Aufklärung
bis hin zur Selbstwahrnehmung, sondern fördert auch eine realitätsgerechtere,
erwachsene Haltung gegenüber Politik und ein angemessen aktives Verhalten.
Ehe Wirth ans konkrete Werk geht, vermittelt er sein analytisches Handwerkszeug,
so dass die Leser in die Lage versetzt werden, ihm zu folgen und ihre eigenen
Schlüsse zu ziehen. Schließlich entpuppt sich sein Werk als Lehrbuch
der politischen Psychologie, im besten Sinne kombiniert aus gut verständlichem
Theorieteil und seiner praktischen Anwendung. Nach der Lektüre ist nicht
nur der Nutzen der Psychoanalyse für die Politik offensichtlich, sondern
für jeden, der von Politik betroffen ist, sich politikverdrossen gibt
oder dafür hält.
Dr. Norbert Copray
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