Buchtipps
Die Dunkle Nacht der Seele
Stichwort:
Spirituelle Krise
Der Begriff der 'spirituellen Krise' ("spiritual emergency") ist zwar neu, aber das, was er meint, ist ein altes Phänomen. Das besonders von dem Therapeutenpaar Christiane und Stanislav Grof untersuchte und auf den Begriff gebrachte Phänomen ist die akute und dramatische Zuspitzung des spirituellen Wachstums eines Menschen, wie sie einem Buddha unter dem Affenbrotbaum, Moses vor dem brennenden Dornbusch, Jesus in der Wüste, Paulus vor Damaskus und vielen Mystikern in ihren Träumen und Visionen widerfahren ist - und wie sie heutige Menschen in außergewöhnlichen Bewußtseinszuständen erleben. Der Mensch gerät außer sich, fällt aus der Rolle und den standardisierten Verhaltensweisen, gerät in Verwirrrung und emotionales Chaos, wird aus Gewohnheiten herausgeworfen, weil in seine Existenz eine ihn verrückende Dimension überwältigend
eingebrochen ist.
Wegen der für Außenstehende, aber auch für die Betreffenden verrückenden Erfahrungen überschneidet sich die spirituelle Krise in manchen Punkten mit dem Verrücktsein, daß die klinische Psychologie und Psychiatrie mit Psychose beschreibt. Bei der Psychose sprechen wir auch von sogenannten Geisteskrankheiten, weil der Geist des Menschen verwirrt und sein Verhalten unklar ist. Der Mensch ist mindestens phasenweise nicht mehr in der Lage, sein Leben zu führen; er leidet an seiner Unfähigkeit, mit sich und seiner Umgebung zu recht zu kommen; er ist überwältigt von Angst- und Depressionszuständen, erlebt sich auch oftmals in nicht kontrollierbaren Zwängen. Schizophrenie, also gespaltene Persönlichkeit, und manische Depression sind typische Psychosen. Sofern für solche schweren Persönlichkeitsstörungen (Kernberg) keine organischen Ursachen festzustellen sind, ist die Rede von funktionellen Psychosen, für deren Hintergrund dann eine Reihe von tiefenpsychologischen Erklärungen existieren. Die transpersonale Psychologie, der sich Grofs verschrieben haben, will Persönlichkeitsstörungen, die nicht mit einer Unfähigkeit der Person einhergehen, sich ihren Zustand und die Natur seiner Prozesse bewußt zu machen, auch unter dem Blickwinkel der spirituellen Dimension menschlicher Existenz würdigen, die bislang in der klinischer Psychologie und Therapie keine Rolle gespielt hat, es sei denn als zusätzliches Symptom für Behandlungsbedürftigkeit.
Menschen, die nach eigener Auskunft Erfahrungen mit Gottheiten und Dämonen, mit Heldenreisen und schamanischen Erlebnissen haben, werden sich in einer medizinisch verengten psychologischen Behandlung sicher nicht wiederfinden können. Der Tiefenpsychologe Carl Gustav Jung würdigte als einer der ersten die innere Bilder- und Erlebnisflut psychotischer Patienten und machte sich - gestützt auf seine These vom Reichtum unbewußter kollektiver Symbole und Bilder in jedem Einzelnen - daran, die verrücktmachenden Erfahrungen von Patienten in verständliche Sprache zu übersetzen. Der schottische Psychiater Ronald D. Laing drängte darauf, Psychosen nicht als Ausdruck von Krankheit, sondern als Botschaften des Transzendenten zu verstehen, denen eine aufmerksame, heilende und mitfühlende Unterstützung entgegengebracht werden müßten. Auf diese Weise können Menschen ihnen und anderen außergewöhnlich erscheinenden Bewußtseinszustände in ihre gesamte psychische Entwicklung zu intergrieren und mit ihrem verrückten Anteil zu leben lernen. Allerdings sind psychotische Zustände viel zu ernst und oftmals auch lebensgefährlich, als daß sie sich für laienhafte Experimente eignen würden. Im Grenzbereich von Psychose und spiritueller Entwicklung spirituelle Krisen zu entdecken, Menschen in diesen Krisen kompetent zu begleiten, wenn sie sich von ihnen überwältigt fühlen, sollte Fachleuten vorbehalten sein, die sich aus eigenem Erleben oder aufgrund von praktischen und theoretischen Studien darauf verstehen. "Ideal wäre ein Netz von Selbsthilfe-Gruppen, die speziell auf Menschen in spirituellen Krisen" (Grof) ausgerichtet wären.
Spirituelle Entwicklung ist für Grofs die "Bewegung eines Individuums in Richtung auf eine erweitere Art des Seins, zu der bessere emotionale und psychosomatische Gesundheit, eine größere Freiheit der persönlichen Wahl und ein tieferes Gefühl von Verbundenheit mit anderen Menschen, der Natur und dem Kosmps gehören" (Suche). Diese Entwicklung kann sehr sanft, kaum wahrnehmbar sein, so daß Veränderungen nur im längeren Rückblick sichtbar werden. Der Prozeß kann sich jedoch auch beschleunigen, zu rascher Veränderung der Realitäts- und Selbstwahrnehmung führen, zu Erschütterungen gewohnter Abläufe. Dabei werden alte psychische Verletzungen freigelegt; Chancen zu einer Verwandlung der Persönlichkeit und zur Heilung entstehen. Die Person erfährt sich als Adressat außerpersonaler, göttlicher Wirklichkeit mit starker Wandlungskraft. Schwere Persönlichkeitsstörungen lassen sich in diesem Kontext möglicherweise lindern, neu verstehen und in eine lebensfähige Entwicklung integrieren. zu spirituellen Krisen gehören Glücks- und Einheitserfahrungen, Todesnähe-Erlebnisse, Erinnerungen an 'frühere Leben', seelische Erneuerung durch Rückkehr zur Mitte, außersinnliche Wahrnehmungen. Franco Rest thematisiert das Damaskus-Erlebnis als eine Form der spirituellen Krise, in der ein einzelner Mensch eine Kehrtwendung seines Lebens vollzieht, die Realität
anders sieht als zuvor, gebunden an einen bestimmten Standort - einen heiligen
Ort? - und einen entscheidenden Augenblick.
" Die dunkle Nacht der Seele" (Johannes vom Kreuz), die ein Mensch in spiritueller Krise durchmißt, ist meist von Gegensätzen der Angst und des Hochgefühls geprägt. Früher hat sehr oft ein religiöser und kirchlicher Kontext Schutz und Orientierung geliefert, um die spiritueller Krise zu bestehen, wenn auch mystische Menschen nicht selten am Rand offiziellen Kirchenchristentums angesiedelt waren. Heute gilt: "Viele Menschen, die in der Lebensmitte ein spirituelles Erwachen erleben, stellen ernüchtert fest, daß die kirchlichen Rituale, die ihnen früher so wichtig waren, ihnen nichts mehr zu sagen haben. Diese Menschen bemerken eine Ausweitung ihrer Spiritualität" (Bragdon). Das ist nicht immer so, aber nicht zu unterschätzen ist der Anteil derer, die den Kirchen und dem Christentum den Rücken kehren, nicht weil sie ihre Beziehung zur religiösen und göttlichen
Wirklichkeit kappen, sondern weil sie sie anspruchsvoller und intensiver
von ihrer individuellen Erfahrung her leben wollen.
Dr. Norbert Copray
Rezensierte Bücher:
Emma Bragdon: Spirituelle Krisen. Wendepunkte im Leben. Bauer. 350 Seiten.
Stanislav und Christina Grof: Die stürmische
Suche nach dem Selbst.
Praktische Hilfe für spirituelle Krisen. Kösel. 383 Seiten.
Stanislav und Christina Grof (Hg.): Spirituelle Krisen.
Chancen der Selbstfindung. K ösel. 293 Seiten.
Franco Rest: Kehrwendung im Menschenleben. Damaskus-Erlebnisse in Geschichte und Gegenwart. Herder 1683.
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